Angeschossen

Heute gegen acht uhr früh kam die Hexe zu mir ins Büro und schoss mir zwischen die Schulterblätter.

Zuerst wusste ich ob der krampfartigen Schmerzen gar nicht, wie ich mich hinsetzen oder -stellen sollte. Plötzlich wurde mir schwarz vor den Augen. Da ich Ohnmacht fürchtet, legte ich mich flach auf den Boden, damit ich nicht mehr umfallen könnte und mir nicht noch zusätzlich eine Gehirnerschütterung zuzöge.

Sowas ist mir nämlich mal passiert – und zwar ausgerechnet in einer öffentlichen Toilette.
Während meines Weggetretenseins muß ein älterer Herr hereingekommen sein, sieht mich inmitten der Pisse liegen und zieht den für sich einzig richtigen Schluß – ein Drogensüchtiger hat sich wieder mal einen Schuss gesetzt. Folgerichtigerweise ruft er nicht die Rettung, sondern die Polizei.
Unter deren rauhen Fußtritten bin ich dann erst wieder zu mir gekommen.

Das ohnmächtige Umfallen ließ meinen Kopf auf den Fliesen aufschlagen, wodurch ich mir eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen haben muß. Jedenfalls kam ich nur scheibchenweise wieder zu Bewußtsein, wusste meinen Namen nicht mehr und stammelte irgendwas von einem gelben Haus – da wohnte der Freund, den ich anschließend besuchen gehen wollte. Wie seltsam, dass mir gerade das so deutlich vor Augen stand ….
Für die Polizisten war in Anbetracht meines Gestammels sonnenklar, dass ich in irgendeinem drogenbedingten Dilirium war. Also nahmen sie mich mit auf die Wache. Das alles habe ich nur bruchstückhaft mitgekriegt, wegen Gehirnerschütterung und so.

Wie ich da so auf der Wache sitze, kommen meine Erinnerung nach und nach wieder zurück. Zuerst die groben Umrisse – mein Name, mein Wohnort, der Grund meines Hierseins, schließlich der Name der Stadt. Weil alles nur stückchenweise kommt, ich noch dabei bin, meine Erinnerungen zusammenzuklauben – insbesondere jene meiner Identität - mich deswegen auch immer wieder widerspreche und erst auf Nachfrage Widersprüche erkenne und zu einer stringenten Geschichte konstruiere – mir fehlt schließlich eine Viertelstunde meines Lebens – glauben die Polizisten natürlich, dass ich gerade am Ausredenerfinden bin. Ich verlange einen Arzt, der mir zuerst mal verweigert wird, stattdessen wird mir mit Ausnüchterungszelle samt anschließendem Weiterverhörens gedroht – sie wollen wissen, ob ich nur konsumiere, oder auch noch selber deale und wenn nicht, woher ich es denn hätte.

Irgendwann wird dann doch ein Arzt gerufen, der meinen Beteuerungen glaubt und als erster auf Gehirnerschütterung tippt (daher weiß ich es auch). Außerdem macht er den Polizisten auch deutlich, dass ich weit weg bin von wie auch immer gearteten Drogensymptomen. In Ermangelung weiterer Gründe, müssen mich die Uniformierten schließlich gehen lassen. Geglaubt haben sie mir nicht („Burschi, i hab des im Urin, dass du a ganz a abgefeimter bist! …).

Meine Freilassung verdanke ich schließlich der Courage des Arztes, der bereit war, die gesamte Affaire zu protokollieren und auch unter Eid auszusagen, sollte ich dessen bedürfen. Für ihn, den Mediziner, war die Geschichte von der plötzlichen Ohnmacht samt Gehirnerschütterung absolut glaubhaft und nachvollziehbar.

Von da an war mir bewußt, dass wir unser Leben und die Ereignisse um uns herum immer zu Geschichten verdichten müssen, damit wir nicht im Unerklärlichen ertrinken. Leider bauen wir unsere Geschichten in der Regel auf Basis eines völlig unzureichenden Informationstandes auf. Ich habe es in Folge richtig trainiert, auf einer bestimmten Informationsgrundlage mindest zwei Geschichten zu erzählen – und es ist mir praktisch immer gelungen. Das fällt auch keinem auf. Aus mir ist irgendwann ein richtig guter Lügner geworden, keiner der nur plumpe Unwahrheiten erzählt, sondern einer der die natürlichen Lücken unseres Wissens ausnutzt und die jeweils andere Geschichte erzählt.

Irgendwann habe ich damit wieder aufgehört, weil ich eigentlich selten einen guten Grund zum Lügen vorfand. Außerdem machte ich eine weitere Entdeckung: welche Geschichte am Ende die gültige ist, welche Erzählung diejenige sein wird, auf der alle ihre weiteren Geschichten aufbauen müssen, das ist keineswegs eine Frage der Plausibilität oder der Faktenlage, sondern der schlichten und plumpen Macht. Wer häufig Zeitung liest, wird irgendwann mal merken, was für Unsinn in der Politik so geredet wird, und wer im Berufsleben steht, dem fällt irgendwann mal auf, was für Dummköpfe Karriere machen können. Und es ist dann völlig egal, was für Unsinn gesagt wird: ist man mächtig genug, kann man die Abhängigen dazu zwingen, ihre Erzählungen nach jener des Mächtigen zu richten.

Klar: es gibt eine Grunderzählung, etwa, dass die Welt rund ist und um die Erde kreist, dass man Arbeiten muß und nicht faul sein darf, dass man Geld im Leben braucht, dass bestimmte Frauen schön sind und Autos toll usw.. Davon sollte sich auch ein Mächtiger nicht zu weit entfernen. Denn jeder Erfolgreiche hat Neider und Konkurrenten.

Nur ganz wenige dürfen die Grunderzählung verlassen. Jesus tat es, Hitler tat es auch, die Neoliberalen haben es in den 90igern versucht und anarchistische Kreise tun es ständig, wenn auch erfolglos (deswegen bilden sie zusammen einen Underground – da stört niemand das Lagerfeuer, um das sie sich Nacht für Nacht versammeln und den Geschichten der Ältesten lauschen; vielleicht wird daraus wirklich mal ein Erzählstrang, nach dem sich am Ende alle richten müssen).

Wer glaubhaft eine neue Erzählung in die Welt setzt, kann die Menschen bewegen. Das kommt aber nur alle paar Jahrhunderte vor. Meistens konkurrieren viele kleine Erzählungen miteinander – und der Mächtigere setzt seine Version eben durch.

Konfabulation nennt man es, wenn sich jemand zu sehr von der Mainstream-Geschichte abkoppelt, und zu durchsichtig nach eigenem Vorteil konstruiert und natürlich seine eigene Geschichte glaubt, obschon die quer zur Hauptströmung liegt. Wobei: Vorteil ist das falsche Wort, eher geht es um Angst, man entwickelt Stringenzen, die einzig dem Zweck dienen, gewissen Erkenntnissen aus dem Weg zu gehen. Jämmerlich ist es, wenn man beobachten muß, wie an sich intelligente Menschen sich ihre Lage schön reden, nur um nicht sehen zu müssen, wie sehr sie an ihren eigenen Maßstäben gescheitert sind.

Verschwörungstheoretiker schließlich machen besonders gerne und oft Gebrauch von den vielen Lücken, welche die Wissenschaft zwangsläufig lassen muss, weil die Welt eben viel zu dicht und eng ist, um alles abzudecken. Da könnte man noch vieles erzählen, aber das ist wiederum eine eigene „Geschichte“.

Damals auf der Polizeiwache stand meine Erzählung gegen jene der Polizisten, und es bedurfte der Autorität eines Arztes, dass man mich zumindest laufen ließ, damit ich wenigstens in Freiheit blieb.
Und Freiheit war vor allem die Freiheit, seine eigene Geschichte erzählen zu dürfen.

Weil ich all das also schon erlebt hatte und nicht nochmals erleben wollte, deswegen legte ich mich heute morgen in vorauseilender Absicht flach auf den Boden, damit ich nicht mehr umfallen konnte. Dass ich schließlich zum Arzt ging, einer Ärztin genaugenommen, dass sie mir eine Spritze in gewisse Stellen im Rücken gab, mir wieder ein wenig übel wurde, weil ich mich vor Spritzen fürchte, dass ich dann allerdings ziemlich bald schmerzfrei war und nicht mal nach Hause gehen konnte, sondern bis fünf weiterarbeitet, das alles soll noch erwähnt sein, damit auch diese Geschichte ein Ende findet.

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