Das neue Gesicht der alten Angst

Heute eine Schlagzeile in der Zeitung: "Die Staatsanwaltschaft ermittelt jetzt die genaueren Umstände der Masern-Epidemie in Salzburg - Experten rufen erneut zur Impfpasskontrolle auf."

Wir war das bei uns damals? Ich und meine Altersgenossen, wir haben die Masern und all die anderen Kinderkrankheiten einfach irgendwann gekriegt. Unsere Eltern haben schon drauf gewartet. Meine Oma hat sogar gelacht, und gemeint, da müsse ich jetzt durch, das kriege jeder und ich müsse nichts befürchten. Nur würde es jetzt etwas unangenehm. Dann lage man zwei Wochen im Bett. Und noch einen Tag. Damals hieß es, man bleibt solange im Bett, bis man gesund ist, und noch einen Tag, um sicher zu gehen. Dann hatte man es hinter sich, und man war auch etwas erwachsener, weil man wieder eine Kinderkrankheit hinter sich hatte.

Und heutzutage ermittelt die Staatsanwaltschaft.

Masernparties gab es auch keine. Wenn man einen kranken Freund besuchen ging, wurde man nicht zurückgehalten, weil man so eine Krankheit ohnehin irgendwann kriegt. Aber man wurde auch nicht hingeschickt. Krankheit war einfach Teil des Lebens, weil sie jeden irgendwann erwischte - man suchte sie nicht und floh ihr nicht. So wie rundherum auch immer wieder gestorben wurde, ohne dass deswegen ein Arzt vor den Richter musste. Behinderte liefen durch die Straßen und wurden - je nach Temperament - gehänselt oder bedauert. Sie wurden auch irgendwie geschützt, weil sie Teil des Dorfes war.

All das war selbstverständlich und Teil des Lebens. Was hat sich seither geändert? Wer krank wird, hat etwas böses getan. Selbst die Esoteriker suchen irgendeine Schuld, im Vorleben meinetwegen oder sonstwo. Wer in seinem Leben irgendein Risiko lebt, und keine bewußte Anstrengung unternimmt, es auszuschalten oder wenigstens zu optimieren, macht sich in irgendeiner Form schuldig. Man spricht davon, dass der Mensch eigentlich weit über hundert Jahre werden könnte, wenn er sich nur an die vielen Regeln hielte.

Eine Ärztin wurde kürzlich zu Schadenersatz verurteilt, weil sie die Eltern eines behinderten Kindes nicht entsprechend vorgewarnt hatte, sodaß sie nicht mehr abtreiben konnten, und nun einen Krüppel haben. "Krüppel" darf man eigentlich nicht mehr sagen. Aber abtreiben darf man ihn.

Was ist los? Was hat sich in diesen paar Jahrzehnten verändert? Jene, die heute das Sagen haben, sind zum größten Teil Leute aus meiner Generation. Sie sind so aufgewachsen, wie ich, wir haben in etwa das selbe erlebt. Warum haben die alle solche Angst? Glauben sie denn, sie lebten ewig? Hoffen sie tatsächlich, dass sie den Tod überwinden können?

Unsere Zeit kann mit Hinfälligkeit offensichtlich nicht mehr umgehen. Die Frage, ob man sich nun gegen Masern impfen lassen soll oder nicht, ob Masernparties eine schlaue Sache sind, oder doch fahrlässige Körperverletzung - um nicht zu sagen "fahrlässige Germeingefährdung- diese Frage kann ich so gar nicht mehr beantworten. Wenn ich mich in diese Frage hineinbohre, komme ich vom Hundertsten ins Tausendste, aber auf keine Antwort mehr. Bei manchen Fragen muss ich mich zurücklehnen und sie wie ein Vogel von hoch oben betrachten. Und da denke ich, dass man gewisse Sachen einfach geschehen lassen sollte. Ist es die Angst vor Kontrollverlust, welche die Menschen so herumtreibt, dass sie überall die Nase reinstecken und gleich einen Standpunkt einnehmen müssen?

Manchmal denke ich auch, dass hier das längst als ausgestorben geglaubte Spießertum unter neuem Gewand wiederkehrt. Diesmal von der linksalternativen Seite gewissermassen. Denn jene, die Regeln gegen alles und jedes einfordern, sind meiner Beobachtung nach keine alten Menschen in Lodenmänteln mehr, sondern moderne und urbane Menschen, meistens mit Kind - da sind wir wieder bei den "Kindern", die für jeden Unfug herhalten müssen - und oft sind es umweltbewußte Grünwähler, die sich wirklich alle Mühe gegeben, gesund zu leben und das beste für ihre Kinder wollen. Da wird im Bioladen eingekauft, fair gehandelter Kaffee, Kleidung, die garantiert ohne Kinderarbeit hergestellt wurde. Sie waren mal für mehr Mulitkulturalität, bis sie mit ihrem Sprößling auf dem Spielplatz waren und alle Schaukeln von Türkenkindern besetzt fanden - seither fordern sie ziemlich harsch mehr Integration ein. Ich war mit diesen Menschen auf der Uni, habe mit ihnen wilde Parties gefeiert, gekifft, war auf Demos. Dann haben sie abgeschlossen, kauften zwar noch bei Ikea ein, wenn auch mittlerweile im höheren Preissegment. Es kamen die Kinder, mehr oder weniger geplant, und dann ist irgendwas mit ihnen geschehen. Der Anblick des hilflosen Kindes hat sie allesamt zu Tode erschreckt. Sie fanden sich plötzlich total davon überfordert, dieses hilfsbedürftige Wesen heil über alle Fährnisse des Lebens zu bringen. Die Frauen fingen an, Tonnen von Erziehungs- und Ernährungsratgebern zu lesen. Den Männern war plötzlich nicht mehr egal, wieviel sie verdienten, ob die Arbeit auch spannend ist, wurde hingegen immer unwichtiger. Und sie entwickelten eine unbestimmte Angst vor unbestimmten Gefahren.

Das Risiko. Das Risiko beschreibt, was mit wie hoher Wahrscheinlichkeit eintreffen könnte. Damit das ganze Hand und Fuß hat, wird es beziffert. Damit die Zahlen nicht so ganz in der Luft hängen, werden sie in Prozenten angegeben, weil der Hunderterrahmen ein doch recht vertrauter zu sein scheint. Aber was heißt das, wenn etwas mit, sagen wir, 37%iger Wahrscheinlichkeit eintritt? Es sagt, dass, käme dieses Ereignis hundert Mal vor, dann wäre es in 37 Fällen tödlich. Nein, das Ereignis müßte in mehreren Hunderterpaketen stattfinden, und erst der Mittelwert dieser Hunderterpakete wäre 37. Damit weiß ich allerdings noch nicht, was nun "tatsächlich" passiert. Denn das Ereignis findet eben nicht in mehreren Hunderterpaketen statt, sondern nur EINMAL. Eigentlich weiß ich gar nicht, was passieren wird, ich kann dieses Risiko gerade mal mit einem anderen vergleichen und so bestimmen, welches das geringere ist. Was aber MIR am Ende WIRKLICH passieren wird, das festzustellen bleibt immer noch den Astrologen und Tarotzigeunern überlassen. Na ja, stimmt nicht ganz, auch die Astrologen haben irgendwann mal beschlossen, dass die Sterne nur "geneigt machen, aber nicht zwingen". Somit auch nur ein riesiges VIELLEICHT.

Wegen solcher Zahlen kann man sich also genauso gut fürchten, wie nicht fürchten. Es ist wie das berühmte Glas Wasser, über das zu disputieren, ob es halb gefüllt oder geleert ist, gerade mal was über die Diskutanten aussagt, nämlich ob sie eher pessimistisch oder optimistisch sind.

Wir glaubten den Aberglauben überwunden zu haben, so wie das Spießertum. Ich glaube aber beobachtet zu haben, dass er schon längst wieder eingezogen ist. Er gibt sich sehr vernünftig. Früher war Sex böse, und wer ihm anhing des Teufels. Heute ist er nicht mehr böse, aber wer es tut, geht ein Risiko ein, sich AIDS oder Geschlechtskrankheiten einzuhandeln. Die Standpauke, die ich dann vom Arzt erhalte, weil ich mich "dumm" verhalten habe, läßt sich von jener des Priesters, der mich "Sünder" nennt, nur noch in Nuancen unterscheiden. Die Menschen des Mittelalters haben sich die kleinen Teufelchen, die in jedem Busch sitzen, vielleicht genau so vorgestellt, wie unsereiner sich die Krankheitserreger denkt. Und so wie der Priester den Gläubigen ermahnte, er solle seinen freien Willen doch dazu nutzen, Gott wohlgefällig zu sein, so soll der moderne Mensch den Erkenntnissen der Wissenschaft folgen, die er vielleicht so wenig versteht, wie der Analphabet die Bibel, aber er kann ja "glauben", was der Priester im weißen Kittel ihm sagt.

Angst haben sie jedenfalls beide: der Mensch des Mittelalters vor dem Leiden am Bösen, wie der moderne Mensch - und meine Freunde sind durchwegs Akademiker - vor dem Leiden an der eigenen Hinfälligkeit.

Was ist also passiert? Ich glaube, wir sind irgendwie geistesgeschichtlich wieder fast im Mittelalter. Nicht was die Inhalte anbelangt, aber was die Rezipienten der Inhalte betrifft. Und ich erlebe bei immer mehr Menschen diese sinnlosen und diffusen Ängste, die sich an Erkenntnissen aufhängen, die meiner Meinung nach näher an scholastischer Geistesakrobatik sind, als ihnen lieb ist. Zumindest können wir heute beantworten, wieviele Teufel - oder besser Bazillen - auf einer Nadelspitze Platz haben.

Aber es gibt noch mehr. Als die Menschen ihre diffusen Ängste nicht mehr in ihrer Verschwommenheit ertrugen, verschafften sie ihnen Gestalt: Hexen. Ihnen konnte man alles unterstellen, und aller Unmut, alle Todesangst und alles Entsetzen konnte man mit ihnen verbrennen. Das ganze Dorf nahm daran teil, und danach fühlte man sich wieder etwas sicherer. Bis wieder ein Unglück einschlug, wie halt immer Unglücke von Zeit zu Zeit einschlugen. Die Unglücke sind meiner Meinung nach nicht mehr und nicht weniger. Aber die Ängste, die greifen immer mehr um sich. Heute gibt es Menschen, die tatsächlich den Tod fürchten, wenn ich mir neben ihnen eine Zigarette anzünde. Und die können das sogar wissenschaftlich begründen. Auch der "Hexenhammer" galt zu seiner Zeit ja als Wissenschaft. Die Juden bleiben noch ungeschoren, sie sind sozusagen das "Panikbarometer". Sobald der Antisemitismus wieder salonfähig wird, sollte man die Koffer bereit halten. Noch aber stehen sie auf dem Sockel, auf den sie das kollektive schlechte Gewissen gestellt hat. Vorläufig müssen andere herhalten, temporäre Sündenböcke, Asylwerber, Muslime, Raucher. Für die Panik in der politischen Linken gibt es den "Faschisten", den man - so wie die unsichtbaren Krankheitserreger - hinter jedem Busch fürchten kann. Wird die Unsicherheit zu groß, sucht man sich einen leicht erregbaren Zeitgenossen, fragt ihn zwanzig Mal, ob seiner Meinung nach Ausschwitz tatsächlich ein grausames KZ war, und wenn er nach dem zwanzigsten Mal genervt ein flapsige Antwort gibt, hat man wieder einen, den man aus dem Amt jagen kann. So wie man einen Nigerianer oft genug des Drogenhandels beschuldigen muss, bis er von selber draufkommt, dass er - wenn er denn schon ständig den Nachteilen der Verdächtigungen ausgesetzt ist - wenigstens auch die Vorteile des schnellen Gewinns lukrieren möchte.

Mittlerweile hat die Zivilisation ja Tonnen von Erkenntnissen über alles und jedes hervorgebracht. Aber ich denke, wir sind nicht wirklich klüger. Unser Aberglaube hat einfach ein neues Gesicht bekommen. Ich könnte nicht mal sagen, dass er wenigstens etwas differenzierter wäre. Er ist am Ende so platt wie sein historischer Vorgänger. Ich glaube, es ist die Angst, welche die Menschen herumtreibt, weswegen in den letzten Jahrzehnten immer mehr Regeln aufgestellt wurden, weshalb der Staat seine eigene Rechtsstaatlichkeit soweit treibt, dass kein Mensch mehr ob all der vielen Gesetze, seine Rechte wirklich noch kennt. Vor dem Gesetz sind wir mittlerweile so hilflos wie der mittelalterliche Leibeigene vor seinem Herrn und seinem Urteilsspruch fast genau so ausgeliefert, wenn wir uns keinen guten Anwalt leisten können. Was hat sich verändert? Ich will nicht schwarz malen: die Versorgungslage ist eindeutig besser, die Bildungsdichte ist höher, die individuellen Chancen sind zwar noch lange nicht bei der absoluten Chancengleichheit ungeachtet der Herunft, aber schon lange nicht mehr dort, wo sie während des Feudalsystems noch waren.

Aber gerade deshalbe verstehe ich die Menschen nicht, weshalb sie sich noch dermaßen fürchten. Ich glaube, wir haben verabsäumt, die wesentlichen Antworten zu suchen. Antworten haben wir viele, aber es sind keine wesentlichen.

Gegen die Angst helfen keine Regeln. Sie sickert durch alle Regelwerke hindurch, wie Wasser durch eine löchrige Ziegelmauer. Die Menschen werden noch viele kleine und große Gesetze machen, alle mit dem Ziel, sich nicht mehr fürchten zu müssen, endlich sicher zu sein.

Am Ende sterben sie doch.

So will das Messinngherz über den Tod nachdenken, seine Vorteile erwägen und sich mit ihm anfreunden. Er braucht ihn nicht zu lieben oder gar zu ersehnen. Aber er sollte ihn respektieren. Die kleinen Regeln der Menschen gegen die Große Angst sind kindische Respektlosigkeiten. Der Tod ist am Ende wohl auch einer der Engel, die uns gnädig heimsuchen, wenn das Leben sich erschöpft hat.

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