Das Verhängnis der Schuld - fuer Koman Coulibaly

Die immer noch junge Fußballweltmeisterschaft in Südafrika hat einen neuen tragischen Helden.

Koman Coulibaly, der achtunddreißigjährige Referee, der die Partie Slowenien gegen die USA pfiff, hat mit einer krassen Fehlentscheidung möglicherweise den Yanks den Aufstieg gekostet.

Die Rolle der Schiedsrichter ist ohnehin eine undankbare. Neunzig Minuten lang müssen sie darüber urteilen, ob Millionenentscheidungen ihren Return finden oder nicht. Sie erhalten keine Briefe von minderjährigen Teenagern. Kein aufgeweckter Junge sagt mit fünf Jahren, dass er Fußballschiedsrichter werden möchte, wenn er mal groß ist - und wenn doch, wird ihn sein Vater dafür nicht respektieren. Sowohl die Mädels, wie auch die Investoren stehen auf stürmende Torschützen wie Messi, Thierry oder der grobschlächtige Rooney, während intellektuelle Fußballbeobachter geniale Mittelfeldregisseure wie Ribery oder Zidane schätzen.
Fans können die Dressen von allen teilnehmenden und nicht teilnehmenden Fußballmannschaften kaufen - aber welcher Sportladen bietet Schiedsrichterdressen feil? Sogar das unverwechselbare schwarz mit weißem Kragen wurde ihnen genommen, damit die Mannschaften auch diese Farbe in ihr Repertoire aufnehmen können. Schiedsrichter sind die letzten, die mitbestimmen können, in welchem Dress sie auflaufen wollen; vielmehr haben sie sich den Entscheidungen der beteiligten Mannschaften anzupassen.
Machen sie alles richtig, redet anschließend niemand über sie. Berühmt werden sie für ihre Fehlentscheidung.

Das musste auch Koman Coulibaly erleben. Nach einem 0:2 Rückstand zur Pause starteten die US-Amerikaner eine beispiellose Aufholjagd bis zum 2:2, als wenige Minuten vor Schluss Maurice Edu die Nordamerikaner mit 3:2 in Führung gebracht hätte, wäre Coulibaly nicht eine krasse Fehlentscheidung unterlaufen. Er aberkannte den Treffer - wahrscheinlich wegen eines Abseits, dass außer ihm allerdings niemand gesehen hatte.
Aus drei Punkten für die USA wurde somit einer für beide Mannschaften. Je nach dem, wie sich die Gruppenphase entwickelt, könnte die Fehlleistung des Referees über Aufstieg und Weiterkommen der Amerikaner entscheiden.

Amerikanische Kommentatoren meinen, nun sei klar, weshalb Soccer in den USA nie populär wird - American Football hätte in solch einer Situation per Videobeweis festgestellt, dass dieses Tor regelkonform erzielt wurde.
Immer wieder gibt es Diskussionen über das unumschränkte Urteil des Schiedsrichters während der neunzig Minuten dauernden Partie. Fehlentscheidungen sind beinahe vorprogrammiert.
Bislang berief man sich auf ausgleichende Gerechtigkeit: zufällige Fehlentscheidungen müssten sich entlang der Gaußschen Normalverteilung recht gleichmäßig auf alle Mannschaften verteilen. Ohne die sofortige Umsetzung und unhinterfragbare Gültigkeit würde das Spiel nicht mehr funktionieren.

Tatsächlich weiß man vom American Football, wie sehr sich ein Spiel wegen der Videobeweise in die Länge zieht, andererseits durch zahllose Unterbrechungen zerstückelt wird. Außerdem wäre damit eine zunehmende Entfernung von der Amateurliga die Folge - dort gibt man sich ohnehin schon mit weniger zufrieden. Der Videobeweis wäre für die Regionalliga nicht durchführbar. Fußball entwickelte sich somit endgültig zum Profisport. "Gaberln auf der Gstettn" (deutsch sinngemäß: Kicken im Hinterhof) würde sich noch weiter vom eigentlichen Sport entfernen.

Koman Coulibalys wird sich in seiner Kabine wohl die Videoaufzeichnung angeschaut haben - vor oder vielleicht erst nach der Dusche. Er wird seine Fehlentscheidung erkannt haben. Oder gehört er zu den Rechthaberischen, die ihre Entscheidungen grundsätzlich nie in Frage stellen; von wegen Autoritätsverlust und anderer dummer Ausreden. Hält er sich für einen Gott, weil er neunzig Minuten mehr Macht über das Spiel hat, als der Papst?

Selbst bis in die Hochkultur hat sich die Einsamkeit des Goalkeepers herumgesprochen. Aber wer bedenkt die Einsamkeit des Unparteiischen, wenn alle zu einer oder der anderen Seite halten. Die FIFA hat den Referee während des Spiels mit unumschränkter Herrschaft ausgestattet. Nach dem Spiel aber ist er wieder Versicherungsvertreter oder Heizungsinstallateur. Selbst wenn er seine eigene Fehlentscheidung erkennt, gibt es keine Möglichkeit, sie zu revidieren. Danach ist er selbst seiner eigenen Entscheidung untergeordnet. Reue oder Einsicht kommt im Fußball immer zu spät.

Und wie der Fußball, so das Leben. Wir erkennen irgendwann unsere Fehlentscheidungen, wir wissen um das Leiden, das wir anderen zugefügt haben. Und wer weiß, wie man in sich geht, der mag erkennen, dass man die Macht genossen hat, einmal am Drücker zu sein. So groß die Macht war, so groß ist nun die Schuld, mit der man durch sein weiteres Leben gehen muss. Und wir fragen uns, ob wir uns von dieser Schuld niederringen lassen, oder ob das Leben weitergehen muss.

Sartre erkannte, dass in der Aufrichtigkeit und in der Bekenntnis zur Schuld Freiheit liegt, wenn man sich nichts vormacht. Camus sah in der Verdammnis schließlich die letzte Stufe der Freiheit, der düstere Ort, an den die Götter jene verbannen, die nicht bereuen wollen.

Wir trinken ein Glas auf Koman Coulibaly, den einsamen Unparteiischen aus Mali, der wohl das letzte Mal in seiner Karriere ein wichtiges Spiel gepfiffen hat.
Im Sinne der FIFA, im Sinne des Reglements und im Sinne der Jungs und Mädels, für welche Fußball ein Spiel bleiben muss, dass auch in der Gasse gespielt werden kann.

Möge die Reue im fern liegen, damit der Fußball weiterrollen kann.

Und sollen die Amis ihre schlichte Moral weiterhin bei ihren barbarischen Footballprügeleien abfeiern.

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