Das Wandern

Es mag ein einsamer Wanderer in einer kalten verschneiten Winternacht seinen Fuß in den trockenen Schnee setzen, ohne zu wissen, wohin ihn seine Schritte tragen werden. Und sei’s drum: es ist ihm lieber, als unruhig in der heißen Stube zu sitzen, denn es ist sein Los zu wandern und - auch oder gerade wenn er keinen Weg den seinen nennen kann - nicht still zu stehen.

Was ist er auch ein Wanderer geworden?

Hat ihm denn niemand gesagt, dass ein stetig Reisender einen Pfad oder wenigstens eine Richtung braucht? Nun, es denkt wohl ein jeder, dass sich das von selbst verstünde. Und recht haben sie, die Bewohner fester Häuser mit schweren Dächern. War der Wanderer nicht einer von ihnen, ehe ihn der Übermut hinaus in eine Welt zog, die versprach rund zu sein? Doch in Wahrheit ist sie rund nur für den, der sie nicht betritt. Für die Reisenden zu Fuß ist es eine weite, endlose Ebene.

Und das Versprechen, irgendwann dorthin zu gelangen, wo man aufgebrochen ist, bleibt ein uneingelöstes. Rund ist sie nur dem Sesshaften, der seinen feisten Hintern für die Welt hält. Weil er sie „be-sitzt“.
Dies hat der Wanderer wohl nicht bedacht, seine Sohlen betrachtet und in ihrer länglich vorwärtsdrängen Form seine Wahl wieder erkannt. Er war sich sicher, vom Kleinen auf's Große schließen zu können.

Und wie er sich irrte.

Er war sich sicher, dass das Innerste das Äußerste abbilde – denn was hätten die Bilder, die in ihm aufstiegen und ihn lockten, sonst für eine Bewandtnis? Er glaubte. Ein Wanderer sollte das nicht tun. Doch gäbe es denn solche - ohne diesen Glauben?

Aber: den Wanderer, der ein solcher ist, verlässt sein Stern nicht. Mag er in seinen letzten Atemzügen erkennen, dass er einer Chimäre folgte: er hat sein Leben erwandert. Was aber, wenn ihn der Glaube verlässt, und die Heimkehr versperrt ist, weil der Vater den Hof dem jüngeren Bruder übertragen hat?
Wer wandert, hat seine Sippe endgültig verlassen.
Wer seine Sippe will, wandert nicht.

Wohl gibt es enttäuschte Heimkehrer. Doch sie hält die warme Stube nicht lang. Es ist nicht mehr die Heimstätte vergangener Kindertage, sondern nur eine Ruine - unähnlich dem Bild, dass der Wanderer mit sich trug.
So verbrennt er das Bild in seinem Herzen, macht kehrt, hinaus in die kalte Winternacht, und weiß, dass es ein Heim nie gab.
So ist ihm dieses letzte Bild nun auch verloren.

Nun beginnt die Wanderung.
Nun – nachdem sie keine freiwillige mehr ist - beginnt die wahre, die einzige, nämlich jene, die nie begonnen hat und immer schon war. Und er weiß, dass es ihn nur deswegen an diesen einst heimatlichen Ort getrieben hat, damit ein schwerer Mühlstein abgeladen wurde, wo er hingehört.

Er geht vorbei am letzten Haus am Rande seines Dorfes. Es brennt noch Licht. Wacht sie noch? Kennt sie ihn noch? Hat sie ihn gar ... erwartet? Seine Schritte nähern sich dem lichten Quadrat in der dunklen Mauer. Still hält sie den Kopf über eine Arbeit gesenkt. Nur dann und wann greift die Hand zur Wiege an ihrer Seite.

In ruhiger Verzweiflung wendet er sich ab, der Wanderer, und geht seines Weges. Was hat er auch erwartet. Wandern ist ein Schritt, der nach einen anderen gesetzt wird. Genau das - und nicht mehr.

Und der Weg gleicht einem gläsernen Tunnel.


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