Der Hase auf dem Hügel

Qualvoll ist es, sich äußern zu wollen, ohne die rechten Worte zu finden. Man starrt auf das weiße Blatt Papier, sucht nach einem Gesicht, nach Augen, die einen anflehen, und sieht nichts als geräuschloses, taubes Weiß.

Noch bevor er sich an den Schreibtisch gesetzt hat, war das Papier vor seinem inneren Auge ein noch jungfräuliches Schlachtfeld und sein Drehsessel ein Feldherrnhügel, von dem aus die Divisionen und Batterien in die Reihen der Barbaren eindringen sollten, um ihnen jene Kultur zu bringen, für die sie sich noch einmal als dankbar erweisen würden – irgendwann später halt. „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin ...“ – nicht einer ist gekommen.

Satte grüne Wiesen, Schafherden, beinahe ein Idyll. Nun, das wäre ja auch etwas, die Landpartie, die Schöne Schäferin. Oder der Bucklige Hirte, der eine Geschichte von Schande und Inzest im Dorf zu erzählen wüsste – Heimat als romantischer Überwurf über dem Abgründigen.

Nein. Hier auf diesem Hügel, der einem Feldherrn dienen könnte, die Schlacht zu überblicken, sind die Schäfer noch keine zwanzig, fahren mit geländetauglichen Mopeds – oder halt solchen, um die es nicht mehr schade ist – über sich schlängelnde Wege im Grün, Grasnarben, geschlagen aus der Langeweile. Die Lümmel haben Mobiltelefone, MTV im Satelliten-TV, die ersten sexuellen Erfahrungen schon hinter sich, wenngleich sie sich nicht mehr so ganz an die besoffene Nacht hinter dem Wellblechschuppen erinnern können.

Egal.

Er steht also auf diesem Hügel, der einem Feldherrn dienen könnte, die Schlacht zu überblicken, und schaut gedankenverloren auf das Grün der Weiden, beobachtet die Schafe, die sich schon derart an den Motorenlärm gewöhnt haben, dass sie nicht mal mehr auseinander stieben, und versucht angestrengt, sich die Schlacht wenigstens vorzustellen, die bunten Wimpel und Uniformen, die Musik von Trommeln und Schwegeln und den ersten Kanonenschüssen, mit denen die Artillerie ihre Mörser auf die Distanzen eicht. Die Pferde tänzeln unruhig, es ist der Geruch von Angst in der Luft. Einige Männer, die da unten marschieren, werden die Abenddämmerung nicht mehr sehen, einige werden in wenigen Stunden wissen, wie es sich anfühlt, kein Bein mehr zu haben, oder wie man elendiglich an einem Bauchschuss zugrunde geht. Und dennoch marschieren sie – und was treibt sie denn? Der Unteroffizier, der mit der Pistole im Anschlag am hinteren Ende des Carrées marschiert und auf jeden zu schießen verpflichtet ist, der panisch davon rennen will? Ginge es jedem so, die Tausenden von Soldaten müssten sich nur geschlossen umdrehen, um mit den wenigen Quälgeistern auf beiden Seiten ein für alle mal Schluss zu machen. Wissen sie das nicht? Sind sie derart in der Angst vor der Obrigkeit gefangen, dass sie ihrer Macht nicht gewahr werden? Schließlich hat der eine oder andere von ihnen schon erfolgreich auf einen Offizier von der Gegenseite geschossen. Der Gedanke, den eigenen Vorgesetzten, der einem doch nur den Garaus machen will, zu erschießen, liegt nicht so weit. In der Hitze des Getümmels etwa. Schließlich werden zu dieser Zeit noch keine Obduktionen durchgeführt, wer sollte schon drauf kommen, auf welcher Seite des Feldes die Kugel den Vorabend gelagert wurde.

Hier fahren keine Soldaten Moped. Von den jungen Männern auf der hügeligen Wiese haben die meisten den Präsenzdienst noch vor sich, einer oder zwei haben ihn schon absolviert und sind jetzt die verwegenen unter ihnen, die Kettenraucher. Die Basis für die zukünftige Alkoholikerkarriere wurde da gelegt, aber noch ist es Tollkühnheit, noch haben sie es im Griff, ist ihre Art, sich an den Wirtshaustisch zu setzen und ihr Bier zu ordern eine lässige – später werden sie sich wortlos an den Tisch setzen und die Kellnerin wird ihnen das volle Glas genau so wortlos hinstellen, nur kein Gespräch anfangen, der hört sonst nicht mehr auf mit den ewigen, alten Geschichten, als er noch ein toller Kerl war. Nun, hier ist er noch der tolle Kerl, von dessen wahren und erfundenen Geschichten er Zeit seines Lebens zehren wird.

Die Soldaten, die in bunten Uniformen zum Schlag der Trommeln aufeinander zu marschieren, waren bis vor wenigen Monaten oder einem Jahr genau so tollkühne Kerle, zu Hause am Land, als dritter oder vierter Sohn des Bauern, keine Aussicht auf ein Leben als geachteter Landmann, eher als Knecht, vielleicht als Geselle, aber da ist es ein weiter Weg bis zum Meister, viel zu weit. In des Kaisers Rock kommt man auch weit herum, und man bekommt gutes Geld, und man hat sich eigentlich um gar nichts zu kümmern. Die Mädchen machen schöne Augen, sobald sie die Uniform sehen, die Magd am Hof hat auch immer von den schmucken Soldaten geschwärmt.

Und nun ist er ein schmucker Soldat.
Und nun ist er auf dem Schlachtfeld.
Und nun sieht er vielleicht das letzte Mal die Sonne.

Das hat er sich schon das letzte mal gedacht, das erste Mal, da hat er nach einigen nahen Einschlägen schlicht in die Hosen gemacht, und es war ihm egal, auch wenn er nie darüber reden wird. Gesehen hat er nicht viel, zu viel Staub, zu viel Rauch, gehört hat er Krachen und Schreien, unbarmherziges Schreien. Noch schlimmer jene, die nicht schrien, die ihn mit ihren Augen anflehten, er möge doch sofort die Dinge ungeschehen machen, er möge doch sofort auf einen anderen Sender umschalten, den Stecker ziehen oder sonst was, er möge ihn sofort mit sich nehmen ins Wirtshaus und wieder so überlegen ein Bier bestellen, und danach, wenn einem die Biere in den Kopf gestiegen sind, hinaus auf die Wiesen mit den frisierten Mopeds, auf die Hügel, wo sonst immer die Schafte weiden, wo dieser seltsame Kerl auf dem Hügel sitzt und herunter schaut, man weiß gar nicht, was er vor hat, die ganze Zeit da oben sitzt und herunter stiert und die Dinge macht. Der möge doch mal von seinem Hügel herunterkommen und ihn hier nicht verrecken lassen mit seinem aufgerissenen Bauch, der noch nicht weh tut, der aber gleich weh tun wird, denn man stirbt nicht so schnell an einem aufgerissenen Bauch, wenn man die Darmschlingen sieht, man seine eigenen Darmschlingen sieht, durch die man immer die Scheiße gepresst hat, und nun sieht man sie, und man sieht seine eigene Scheiße, die aus den losen Enden der Schlingen heraustritt, so war das nicht gedacht mit dem Krieg. Und da hat er sich in die Hosen gemacht, und hat jeden Augenblick den nächsten gefürchtet, Millionen von Augenblicke voraus gefürchtet, denn so ein Kartätschensplitter verändert dein Leben in einem Augenblick. Der Kamerad vor ihm hat zumindest das schon hinter sich, er braucht die Augenblicke nicht mehr zu fürchten, und es ist eine seltsame Ruhe hinter dem Flackern in seinen Pupillen. Das schlimmste hat er noch vor sich, aber das zweit schlimmste, das Fürchten von einem auf den anderen Augenblick, das hat er nun hinter sich. Jetzt geht er noch seinen letzten Weg, und dann ....

Irgendwann senken sich Rauch und Lärm, irgendwann verändern sich die Schreie von panisch auf triumphal, und dann gehört man plötzlich zu den Siegern. Man weiß nicht wie, man ist nur umhergeirrt, aber darüber redet jetzt keiner. Jetzt ist man Sieger, man jubelt. Neben ihm erstirbt kurz ein Jubel: ein Kamerad wird von einer Kugel getroffen, und man weiß nicht, wo die noch herkommt, aber er fällt lautlos im Jubel, und selbst auf dem Boden wälzend jubelt er noch, wahrscheinlich glaubt er, er sei gestolpert, es dauert immer, bis die Leute kapieren, dass es nun zu Ende geht. Sein Jubeln geht in Wimmern über – ausgerechnet jetzt muss es ihn noch erwischen. Aber niemand sieht ihm beim Sterben zu. Jetzt sind sie die Sieger, und nur ein Schwächling stirbt jetzt noch.

Und nur ein Schwächling kommt diesen dämliche Hügel nicht hinauf. Das Alter des Mopeds ist keine Ausrede, schließlich hat man zu wissen, wie man sein Moped aufmotzt, und wer das nicht weiß, der soll weiter fahrradfahren, der soll sich einen Helm aufsetzen, auch wenn es da eigentlich nicht viel zu schützen gibt. Denn wer Verstand hat, der braucht keinen Helm, der weiß, was er tut, der weiß mit fünfzehn, schon was er tun wird, bis er fünfundsiebzig ist. Er kann es auf Anfrage nicht sagen, und er weiß noch gar nicht, dass er es weiß. Er kann noch nicht sagen, dass es ein Haus sein wird, das er baut, dass es ein Mädchen vom Nachbarort sein wird, dass er ehelicht, dass er sich nach fünf Jahren wieder scheiden lassen wird, dass sie die Kinder mitnehmen wird, dass er alleine vor seinem riesigen Haus sitzen wird, an dem er noch in Jahrzehnten abzahlen wird, dass er eine junge Philippina kaufen wird, die ihm nach einem Jahr auch durchgeht, dass niemand so viele Elektriker braucht, und sein Haus der Bank übereignet wird, die es versteigert, bis er wortlos am Wirtshaustisch sitzt. Das alles weiß er, aber er weiß nicht, dass er es weiß. Er weiß nicht mal, dass es einen tieferen Sinn hat, es jetzt sozusagen nicht zu wissen, denn er ist erst fünfzehn, und da hat man anderes zu wissen. Nämlich wie man sein Moped dazu kriegt, irgendwie über die vierzig Stundenkilometer zu fahren, wie viel genau, kann er nicht sagen, weil das Tachometer – der „Tacho“ – es nicht mehr anzeigt. Er kommt immerhin den Hügel hinauf.

Oben weht bereits der bunte Wimpel seines Regimentes. Er schaut um sich, sieht Gesichter, die ihm bekannt vorkommen, die ihm immer wieder unterkamen, Männer, mit denen er noch nicht geredet hat, seine Freunde waren andere, die sieht er jetzt nicht, und wird viele auch nicht mehr sehen. Er sucht die bekannten Gesichtszüge, und erkennt sie so nach und nach unter den Rauchspuren, von denen sie alle gezeichnet sind. Jetzt fallen sich alle siegestrunken um den Hals. Sie jubeln, sie erzählen wie es war, hierher zu kommen, auf diesen Hügel, als Sieger, so als hätte das von Anfang an festgestanden, als wäre dieser Hügel die Bestätigung dafür, was sie auch von vornherein gewusst hatten, nämlich dass sie nur Sieger sein konnten, denn sie trugen das Zeichen von Anfang an. Jedes Detail ihres Lebens war eine weitere kleine Sprosse hin zum Gipfel dieses Hügels, von dem sie nun hinunter blicken auf die Ebene, die von Leichen und bunten Stofffetzen übersät ist. Sie scharen sich um den Feldherrn auf seinem Hügel, auf seinem angenehm gepolsterten Schreibtischsessel, wie er auf das nicht mehr so leere Papier starrt. Sie wissen, dass er von vornherein geplant hat, nur die richtigen überleben zu lassen, die er für die Geschichte braucht, die Geschichte, welche uns entstehen lässt, die uns bestraft, wenn wir nicht auf den Hügel kommen, weil wir nicht gewusst haben, wie man sein Moped aufmotzt. Sie scharen sich um den Feldherrn, von dem sie glauben, er sei auf ihrer Seite, nicht wissend, dass er doch auch der Feldherr der anderen ist, jener, die einen noch viel höheren Blutzoll zahlten und nun die geschlagenen sind, die irgendwo angstvoll durch die Wälder hetzen. Einige haben es noch nicht ausgestanden. Hinter ihnen reitet die Kavallerie, siegestrunken, blutdurstig, mit blankem Säbel. Auch von ihnen werden noch einige an verirrten Kugeln sterben, aber jeder hält sich für den, dem so was nicht mehr passiert. Man ist Sieger. Nur noch jene, die ihn nicht verdienen, werden getötet.

Der Feldherr hat sich abgewandt. Er feiert nicht mit den Überlebenden. Er schreitet gedankenversunken einher. Dem Feldherrn gebührt es nicht, ausgelassen zu sein. Von ihm erwartet die Nachwelt schließlich mehr, als nur Siege – oder nur überlebt zu haben. Nein, Feldherrn sterben nicht in der Schlacht. Schlimmstenfalls töteten sie sich wegen der Schande einer Niederlage – aber das ist schon lang vorbei. Von einem Feldherrn, einem großen Anführer, erwartet die Nachwelt große Gedanken. Er wird ein Buch schreiben müssen, oder halt sein Sekretär, der eigentlich Schriftsteller werden möchte. Am Ende einer Schlacht, wo so viele Menschen ihr Leben ließen, erwartet die Welt tiefe Erkenntnisse von jenem, der am Hügel gestanden und alles überblickt hat. Der Leser gibt sich mit nichts weniger als der Vogelperspektive zufrieden. Er will alles wissen, jedes Detail, egal, wie es aufgefunden wurde. Egal wenn es erfunden oder vom Sekretär, der Schriftsteller werden will, aus dramaturgischen Gründen eingefügt wurde – wie er sagen wird, sollte er ertappt werden. Der Feldherr setzt sich an seinen Schreibtisch nach der geschlagenen Schlacht und schreibt, weshalb er diese Schlacht gewann. Der General der Niederlage hätte sicher auch viel zu schreiben, denn jede gewonnene Schlacht ist für irgendjemanden eine verlorene. Aber der Leser will keine großen Gedanken von Verlierern. Und Verlierer sind immer klein. Jedenfalls im Nachhinein betrachtet, da erkennt jeder strebsame Mittelschüler, welch grundlegende Fehler der König gemacht hat und was zu seiner Absetzung geführt hat. Da erkennt jeder mittlere Gymnasiast, was man – und damit er – hätte besser machen müssen. Deswegen sind Gymnasiasten auch immer so große Idealisten, weil sie so brav Geschichte lernen, brav die Fehler der Verlierer auswendig lernen und dann sozusagen messerscharf umkehrschließen, wie die bessere Welt auszusehen hätte. Intelligente Gymnasiasten wissen das.

Die Unintelligenten haben dafür die schärferen Mädchen.

Es interessiert auch niemanden, weshalb das Moped immer noch nicht über die vierzig Stundenkilometer kommt. Das faktische ist entscheidend, nicht die Begründung für das Konjunktivische. Die Möglichkeitsform hat vielleicht für die Zukunft noch eine Berechtigung. Aber sobald die Zukunft sich zur Vergangenheit gesellt, dieser alles verschlingenden Großen Mutter, sobald Mögliches sich in Tatsächliches und Unmögliches scheidet, wird das Faktische selbst durch sein bloßes Sosein zum Ding an sich. Ein Moped, das auf halbem Weg auf der Hügelflanke eingeht, hat verloren, und sein Friseur ist ein Verlierer. Seine Lässigkeit beim Bestellen des Biers im Wirtshaus wird von jedem sofort als aufgesetzt durchschaut. Die Mädchen spüren instinktiv, dass hier einer kommt, der sein Ziel nicht erreicht hat, einer, der nie auf den Hügel kommt.

Dass er einer jener sein wird, der nicht aus dem Krieg heimkehrt, der auf der Flanke liegen bleibt, gestolpert, verfangen in seinen eigenen nieder hängenden Gedärmen, ausgerutscht auf seiner eigene Scheiße, überrannt von den nach ihm strebenden. Vom Feldherrn ins offene Feuer geschickt auf einen Weg, den viele seiner Kameraden nicht zu Ende brachten, ein Error des Großen Strategen, der diesen kleinen Lapsus in seinem Lebenswerk nicht erwähnen wird, es wird ihn auch niemand fragen, kein Journalist wird die Details der Schlacht nachvollziehen oder wird es wagen, am Denkmal zu rütteln. Später werden sie es tun, andere Generationen, die es satt haben, ihn immer als Vorbild hingestellt zu bekommen, als der, der nie aufgab, der es aus kleinen Verhältnissen geschafft und der immer seine Suppe aufgegessen hat. Diese späten Generationen werden vielleicht die Frage nach jenen stellen, die an der Flanke zum Hügel verbluteten, während ihn seine Ururenkelin verzweifelt verteidigt – ebenso aus Trotz, aber gegen ihren Vater, den Progressiven, der am Mittagstisch immer gegen den berühmten Vorfahren spottete. Eine Geschichte braucht Statisten, und sie braucht viel davon. In jedem schlechteren Wildweststreifen gibt es einen Mexikaner, der mit wehendem Poncho als letzter von der Straße läuft, wenn sich The Good and The Bad zum großen Showdown gegenüber stellen. In jedem James-Bond-Film steht irgend ein kräftiger junger Mann in schmuckem Kampfanzug mit einer Waffe als Wache an eben jenem Eingang, durch den der Agent seiner Majestät hindurch will, und stirbt vor seiner Zeit – ohne quälenden Schrei oder Monolog, ihm gesteht der Große Regisseur gerade mal ein Röcheln und ein Seufzen zu. So einer hat sein Moped immer bestens aufgemotzt, und trotzdem stirbt er nun einen so belanglosen Tod. Wohl hatte er sich schon auf dem Hügel gewähnt, sein Tod hingegen zeigt ihm, dass er weit unter dem Gipfel war. Ein anderer zieht nun an ihm vorbei, einer, den die Götter mehr lieben.

Einer, den seine Frau mehr liebt. Er kennt sie noch nicht, und sie ihn nicht. Noch haben sie sich nicht gefunden und in einander verliebt. Noch hat sie ihn nicht verlassen eines anderen wegen zu einer Zeit, als niemand mehr mit frisierten Mopeds irgendwelche Hügel hinauf fährt. Der Schriftsteller auf dem Feldherrnhügel gönnt ihm diese schmachvolle Niederlage und es ärgert ihn, dass er noch soviel schreiben muss, dass er noch Jahrzehnte an Schicksal erfinden muss, um es diesem naseweißen Bengel endlich heimzahlen zu können, dass er ihn, den Großen Schriftsteller, mit seiner schnurgeraden Fahrt auf den Hügel düpierte, indem er mit seiner Siegespose demjenigen, der doch den Großen Überblick hat, die Show stahl. Und weil der Schriftsteller ihm noch nicht genug zugefügt hat, gibt er ihm ein Haus, und nimmt es ihm wieder, gibt er ihm eine Philippina und nimmt sie ihm wieder: der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.

Der kleine Lümmel soll noch spüren, wer hier der Herr ist!

Auf den großen Sieg folgt das große Fressen und Saufen. Bier und Branntwein, und – sofern eine Feindessiedlung in der Nähe ist – Frauen. Das haben die Sieger sich verdient. Und der Große Feldherr lässt sie gewähren, er lässt gar das eine oder andere Fäßlein springen. Aus der eigenen Börse, versteht sich. Dafür lieben und vergöttern sie ihn. Dafür ziehen sie mit ihm auch in die nächste Schlacht. Und die übernächste. Das Leben ist ein endloses Schlachten in dieser Nacht, und sie werden alle als Sieger überleben. Denn es hat sich gezeigt, wer für dieses Leben taugt. Nun hat sich das Faktische vom Möglichen getrennt, die Lebenden von den Toten, „ein reinigendes Stahlgewitter“. Das macht Geschichte. Das wird zur Prämisse für alle weiteren Entwicklungen. Das werden die Schüler noch in vielen Jahrhunderten auswendig lernen müssen. Wer da gewonnen hat, den müssen sie sich merken. Wer verloren hat, merken sich vielleicht die Streber. Oder die Journalisten, die am Denkmal rütteln wollen. Die Reihenfolge der Sieger ist die Reihenfolge der Geschichte, und damit die Reihenfolge der Zeit. Und eine Funktion des Raumes, den die Sieger übernehmen und nach ihren Vorstellungen gestalten, indem sie den Unterlegenen jene Kultur bringen, für die sie sich noch dankbar erweisen werden. Später halt. In dieser Nacht werden die Besiegten zu jenen Barbaren, die sie für die Nachwelt immer schon gewesen sein werden bis zu diesem denkwürdigen Tag vor der Nacht, in der das Leben eine endloses Schlachten ist.

So wie die Flanke des Hügels endlos ist für jenen, der das Moped nicht zu frisieren versteht. Unauffällig wird ein längerer Anlauf genommen, den allerdings die vielen Fahrrillen mit ihren Unebenheiten wieder neutralisieren werden. Der Motor rattert so unsicher, wie das Herz des Verlierers schlägt. Der Lenker wird von einer schwachen Hand gehalten. Der Geist ist bereits mit der guten Ausrede beschäftigt. Die Verzweiflung treibt den schlechten Friseur gar soweit, dass er insgeheim Stoßgebete zum Großen Schriftsteller schickt, ihn doch nur dieses eine Mal hinauf gelangen zu lassen, auf den Hügel der Sieger. Indessen weiß er, dass die Siege der einen auf der Niederlage der anderen aufbauen. Dass es keine Geschichte gibt, die ohne die vergessenen Verlierer auskommt. Sie sind die andere, die dunkle Hälfte, der Schmierstoff, das Proletariat der Großen Fabrik. Ihnen gebührt kein Erinnern. Eingedenk ihrer würde die Geschichte eine zweigeteilte sein, eine, die um längst vergangene Möglichkeiten kreist, und damit denen, die sich anschicken Sieger zu werden, ihre Sicherheit nähme. Wer zöge noch in eine Schlacht, wenn er wüsste, dass er über seine eigenen Gedärme stolpern könnte, nur damit die Geschichte eine eindeutige bleibt. Eine Schlacht soll Klarheit schaffen, soll die Geschichte von den vielen Wenns und Abers reinigen. Das gefällt den Historikern. Solange die Schlacht aufgeschoben ist, greifen die Begriffe nicht. Da ist von Interregnum die Rede, oder von den Warlords – letztere kriegen nie Nummern oder Beinamen wie die Könige, sondern reine Funktionsbezeichnungen. Dann kommt die Schlacht, und der Sieger wird als jener, der geeint hat, bezeichnet. Er hat Klarheit geschaffen. Ab da gibt es nur noch einen, der Dokumente unterzeichnet, und das gilt dann für alle im Reich, in dem die Sonne nie untergeht, was so viel heißt, wie dass der Historiker sich nicht mal mehr um Zeitzonen kümmern muss.

Zugegeben: Schriftsteller sind keine Historiker. Kein Schreiberling will jahrelang studieren und den Rest seiner Laufbahn in muffigen Bibliotheken zubringen, wo man nicht laut sein und nicht rauchen darf, wo Studentinnen mit Brillen und Studenten mit Milchpackerln herum sitzen, also die Streberinnen und die Gesunden. Ein Schriftsteller will weder Streber noch gesund sein. Er ist ein dünner, bleicher, ausgemergelter, hohlwangiger, kettenrauchender Kaffeetrinker. Nach Abschluss seines Werkes geht er zum Arzt, und will ein schlechte Diagnose haben: „Sie sollten sich schonen. ...“, was als Beweis dafür gilt, dass er sich nicht geschont hat, dass er alles gegeben hat, dass es ist ihm offenbar ernst war mit seinem Werkl. Auch er will – irgendwie halt – über seine Gedärme gestolpert, auf seiner Scheiße ausgerutscht sein. Im Unterschied zum Historiker – seinem Feind, dem Faktenaufzähler – will er auf halber Höhe liegen bleiben. Er ist der Verwahrer des Möglichen, der Zeuge dessen, was nicht war, aber hätte sein können. Und damit stellt er sich gegen den Historiker, der ihm immer und immer wieder nachweist, dass gar nichts anderes als das Seiende sein konnte, wenn es auch sein Zeit braucht, sich zu entfalten. Dem Schriftsteller ist das Faktische der Mörder des Möglichen, und der Historiker dessen arglistiger Verteidiger. Er ist der Meister des Konjunktivs – zumindest sinngemäß, nicht grammatikalisch, das Buch kaufte ihm keiner ab. Deswegen bleibt er bei denen, die auf der Flanke liegen bleiben, bei denen, deren Moped nach der unruhigen Fahrt über die Rillen auf dem getrockneten Schlamm auf halber Höhe stottert und stehen bleibt. Der Autor will der Zeit Einhalt gebieten, will die Möglichkeiten prüfen, sich Zeit nehmen um sich für die beste entscheiden, wo der Historiker meint, diese Entscheidung sie eine Anmaßung, man lasse den Dingen einfach ihren Lauf und sähe dann ohnehin in der besten aller möglichen Welten, wo und wie der Hase läuft.

Und der Hase läuft immer den Hügel hinauf – und die Historie hetzt hinterher. Oben kämpft die Geschichte gegen die erzählerische Freiheit, und jeder meint, der Hase liefe schnurstracks zu ihm.

Und dann läuft er an beiden vorbei.

Der Hase läuft und läuft, voll Panik und Entsetzen, den Lärm der Schlachten und Mopeds so sehr fürchtend wie die tollpatschigen Streicheleien der Tierschützer. Der Hase ist immer vorne, nie war er hinten. Wo noch von Möglichkeiten die Rede ist, da ist der Hase schon längst weiter. Und wo ein Faktisches erkannt wird, da läuft schon der Ururenkel des Hasen in einem anderen Universum. Immer noch auf der Flucht, unfähig stehen zu bleiben, läuft und läuft und läuft. Die Geschichte ist nicht das Feld des Hasen, sie ist ihm zu eng, dort wäre er längst erlegt. Das Faktische durchläuft er schneller, als der Historiker in seiner Bibliothek ein Buch aufschlagen kann. Und dann ist er im Möglichen, dort wo auch das nachmals Unmögliche sich noch tummelt. Alle Möglichkeiten läuft er ab, ausnahmslos alle, sucht den Ausgang, den einen Ausgang, der ihm Rettung wäre, schnell hindurch und die Tür hinter sich zugeschlagen. Es gibt keine Tür, mittlerweile weiß es der Hase. Sein Laufen hatte nie den Zweck, irgendwo schneller zu sein, als jemand anderer. Er läuft, weil ohne ihn alles stünde. Er alleine ist der Motor der Zeit. Er, der furchtsame Hase, der eher im unteren Viertel der Nahrungskette angesiedelt ist. Er hält all die Füchse und Wölfe und Autoren und Feldherrn und Mopedfriseure und Schlachtenverlierer zusammen – und alle zusammen zum besten.

Darum nennt man ihn ja auch den Angsthasen.

Es ist die Hasenangst, die eine Geschichte vorantreibt, die gefundene und die erfundene. Die Schmierer der Großen Fabrik schmieren aus purer Hasenangst. Die Soldaten marschieren aus purer Hasenangst in den Tod. Der große Feldherr hat pure Hasenangst vor der Niederlage, und zwar die größere als der zukünftige Verlierer – deswegen hat er auch gewonnen. Der Mopedfriseur hat Hasenangst vor dem Stottern des Motors. Und die unbehelmten Mopedfriseure bauen weniger Unfälle, weil eine helmlose Fahrt die ohnehin vorhandene Hasenangst noch vergrößert. Wer auf der Höhe der Zeit bleibt, der läuft hinter dem Hasen her. Und dieser läuft immer den Weg der Hasenangst.

Die Nacht nach der großen Schlacht ist ein Nacht ohne Angst. Der Hase ist schon weiter gelaufen und lässt die Mutigen alleine zurück mit ihren Geschichten von ihren Heldentaten, ihrer Entschlossenheit, ihrer Schlauheit. Vielleicht wurden die Frauen aus der nahen Feindessiedlung zusammen getrieben. Ihnen geht es nicht an die Gedärme. Zumindest vorerst nicht. Für sie gibt es kein Laufen und kein Flüchten mehr. So wenig wie für die versprengten Soldaten, die Verlierer, die sich in unwegsamen Sümpfen verborgen halten. Wo sie sind, ist keine Hasenangst mehr. Wo sie sind, ist die Geschichte schon vorbeigegangen. Sie sind Ausschussware, versprengte Überbleibsel dessen, was von der Geschichte als unbrauchbar verworfen wurde. Sie bewegt keine Hasenangst mehr, denn der Hase der gestellt wird, läuft nicht mehr. Ruhig und nur noch leicht zitternd kauert sich die Bäuerin vom nahe liegenden, immer noch brennenden Gehöft zusammen, macht sich klein, als ruhte sie. Vielleicht lädt sie der Wolf noch auf ein Gläschen ein, vor es zur Sache geht. Vielleicht fällt er auch gleich über sie her. Noch, während der Branntwein vor ihr steht, glaubt sie, dass das alles doch nicht wahr sein könne, dass ihr Gatte nicht wirklich tot im Hof läge, es solle der Große Schriftsteller nun sich etwas einfallen lassen, sie habe doch nie jemandem Übles gewollt, weshalb soll sie nun bluten, wo doch nicht mal die Geschichte mehr ihrer bedürfe, hat der Tag doch ein für alle mal Klarheit über ihren weiteren Verlauf gebracht. Aber das selbe denkt sich auch der Soldat. Nun, da die Schlacht geschlagen und die Geschichte entschieden, weshalb noch tugendhaft bleiben. The winner takes it all. Er könnte genauso gut tot auf der Flanke des Hügels liegen. Begraben unter seinem schlecht frisierten Moped, den abgebrochenen Lenker im Unterleib.

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