Die alte Tante Sozialdemokratie
Der allgemeine Tenor zur Landtagswahl in Oberösterreich 2009 ist, dass die SPÖ desaströs verloren hat. Von 1.086.310 Wahlberechtigten wählten statt 299.402 im Jahre 2003 diesmal 213.555 die alte linke Volkspartei. Die Freiheitlichen verbesserten sich im selben Zeitraum von 65.643 auf 130.937 zustimmende Wähler. Die Sozialisten könnten also immer noch sagen, daß sie mehr Zustimmung erhalten haben. Aber sie sehen es nicht so - wie auch praktisch alle Kommentatoren. Die ÖVP hat immerhin diesmal 400.365 statt der vorherigen 339.179 Stimmen auf ihr politisches Konto zu verbuchen.
So sehen die absoluten Zahlen aus.
Es gibt allerdings auch noch die Mathematik. Und die versteht es, Zahlen in allerlei verschieden Zusammenhänge zu bringen. Etwa jene, eine gesamte Menge als aus hundert Einheiten bestehende zu sehen. Besonders zu Vergleichen wird das gerne herangezogen. Bei Wahlen etwa: die Wahlbeteiligung ist in absoluten Zahlen gemessen stets wandelnd. Gemäß jüngsten Trends eher abnehmend.
Damit man dennoch vergleichen kann, wird prozentuiert. 24,94 statt 38,33 Prozent der abgegebenen Stimmen als Verlust für die SPÖ. Da kann man nochmals die Mathematik in Spiel bringen und sagen: der Verlust eines Drittels ihrer Wähler, während man den Freiheitlichen unterstellen kann, die Zustimmung verdoppelt zu haben.
Dieser letztgenannte Zusammenhang wird am häufigsten zitiert, um den Begriff "desaströs" zu unterstreichen.
Aber auch, um die Freiheitlichen als Sieger darzustellen.
Gehen wir nochmals auf die absoluten Zahlen zurück, da die SPÖ eindeutig mehr Zustimmung erhalten, als die FPÖ - dennoch soll sie Wunden lecken.
Neben der Mathematik werden gerne rhetorische Anleihen beim Sport oder beim Militär genommen. Da ist von Siegern und Verlierern die Rede, von Wahlkampf, von Niederlagen und so weiter. So kann man es auch sehen. Muß man aber nicht. Man könnte jede Wahl ebensogut als Messung oder Neuverteilung der politischen Gewichte sehen. Aber das Volk liebt Sieger. Die Parteien und ihre Führer stellen sich selber so dar - jedenfalls im Augenblick der zugenommenen Zustimmung. Politische Realität. Einerlei.
Das alles wollte ich nur nochmals aufzählen, um zu erklären, inwiefern sich die Sozialdemokraten nun als Verlierer sehen. Ihre 213.643 Wähler könnten sich nun aufregen: sie haben die SPÖ gewählt, und die schmollt trotzdem, nur weil es nicht mehr soviele waren wie vorher. Laut Wählerstromanalysen sind etwa 40.000 Wähler zu den Freiheitlichen gegangen. Wegen denen soll nun das Parteiprogramm umgeschrieben werden. Und die über 213.000, welche ihr Kreuz bei der SPÖ gemacht haben, weshalb werden die nun mit etwas beglückt, was jene wollten, die sich gerade bei der FPÖ wohler fühlen?
Konkret geht es um das Integrationsprogramm. Es soll umgeschrieben werden, und bevor die entsprechenden Arbeitskreise sich konstituiert haben, wissen wir alle schon, wie es werden wird: schärfer. Viele Leute fragen sich, was man da noch verschärfen könnte - sind die bestehenden, Ausländern gewidmeten Gesetze ohnehin schon längst jenseits rechtsstaatlicher Normen, wie die zahlreichen Aufhebungen durch den VfGH zeigen. Zu verschärfen gibt es da wohl nichts mehr. Aber die 40.000 Neo-FPÖ-Anhänger, so glauben wohl die meisten Sozialdemokraten, wollen noch mehr legistische Trietzerei. Zumindest hören und lesen wollen sie es, wenngleich viele von ihnen mittlerweile inmitten der Multikulturalität leben, ohne sich dessen bewußt zu sein.
Werfen wir einen Blick ins Wiener Telefonbuch, sehen wir, daß Integration schon längst Alltag ist. Sogar die Reihen der FPÖ waren mit einem Rainer Pawkowicz, einem Hilmar Kabas oder einem Peter Hojac gefüllt. Ganz zu schweigen von Vranitzky, Kreisky, Lacina oder Cap b ei der SPÖ, Busek, Kukacka oder Korosec von der ÖVP. Die Freiheitlichen reden auch schon seit geraumer Zeit nicht mehr von der "deutschen", sondern von der "autochthonen" Bevölkerung in der Hoffnung, daß die Mehrheit ihrer - eben schon längst nicht mehr deutschstämmigen - Wählerschaft nicht wirklich weiß, was das Wort bedeutet. Meinen tun sie jedenfalls ein "wir", daß nur mit spezieller Betonung oder Augenzwinkern jene Bedeutung erhält, mit der sich noch Wahlerfolge feiern lassen. Oder "angestammt", also an irgendeinen Stamm gefesselt oder geklebt, jedenfalls so, daß man sich dazugehörig fühlt und sich von irgendeinem anderen unterscheiden kann. Die Assoziation von den Fliegen, die am Fliegenstreifen picken, erspare ich mir mal auszuführen ...
Jedenfalls machen die nicht hingeklebten irgendwie Probleme. Behaupten jedenfalls die Hingeklebten. Mal können die nicht Befestigten nicht genug Deutsch - oder sollte man besser sagen, die "Landessprache", welche immerhin mit dem Deutschen verwandt ist. Wer allerdings das richtige Mehrheitsdeutsch spricht, heißt "Piefke" und macht sich damit hierzulande auch nicht beliebt. Und wer allgemein verständlich zu sprechen vermag, liefert sich ohnehin dem Verdacht aus, ein "Großkopferter" zu sein - also ein Intellektueller; vorläufig noch ein Schimpfwort in rechten Kreisen, aber das ändert sich, seit genügend Bobokinder am Spielplatz sich bei den Schaukeln nicht gegen die organisierte "Kindermafia" durchsetzen können, weil man mit denen ja nicht reden kann - "die verstehen einen ja nicht"; meint jedenfalls die Mama, weil das autochthone Kind nur "gscheit" sprechen gelernt hat, und sich gefälligst sprachlich von den Proleten fernhalten soll - ... aber ich weiche ab.
Mal wirft man den Zugewanderten vor, sie seien faul und ließen sich durchfüttern. Arbeiten sie hingegen, wird ihnen vorgeworfen, sie nähmen den Autochthonen den Arbeitsplatz weg.
Leben sie auf der Straße, sind sie eine Gefahr, weil sie bestimmt stehlen. Leben sie hingegen in einer Wohnung, so hat ein Inländer dafür keine.
Nach Jahrzehnten der Ablehnung haben sich bei den Zuwanderern verschiedene Formen des "Exilpatriotismus" entwickelt. Für uns Angestammte schaut es aus, als könnten die Türken nicht von ihrem Türkischsein lassen, weil sich immer noch türkisch reden, türkisch essen, türkisch wohnen und so weiter. Es gibt allerdings Türken, welche in der Türkei leben und mal auf Besuch kommen. Und die versichern regelmäßig, wie lustig sie die türkische Exilkultur fänden: angefangen von einer von Fremdwörtern durchsetzten Sprache, über Essensgewohnheiten, welche es in der Türkei nicht gibt, bis hin zu radikal-orthodoxem Islam, welcher in der laizistischen Türkei ohnehin einen eher schweren Stand hat. Ähnliches läßt sich über zugewanderte Polen, Rumänen, Nigerianer, Serben oder Albaner sagen. Was die Zugewanderten für Bewahren ihrer Herkunft halten, ist schon längst eine Neuschöpfung. Aber auch das müßte der autochthonen Bevölkerung bekannt sein; etwa wenn sie die diverse Titel der "Zillertaler Schürzenjäger" hört, die bass line der "Klostertaler" oder den Offbeat der jährlichen Sieger bei diversen Volksmusik-Contests.
Aber wieviele Autochthone haben noch den Sound der traditionellen Volksmusik im Ohr - jedenfalls nicht die männlichen Teens unter den Jungwählern, bei denen die FPÖ regelmäßig Spitzenreiter ist.
Ja, es gibt ein Integrationsproblem. Aber die Grenze jener, die drin sind, und jener die draußen sind, beziehungsweise jenen, welche die anderen draußen halten, die verlaufen völlig anders und lassen sich kaum über Wanderbewegungen ergründen.
Der Eiserne Vorhang hat über Jahrzehnte gewisse Entwicklungen zementiert, die mit seinem Fall erst so richtig ins Laufen gekommen sind. Seither leben wir in einer hoch dynamischen Gesellschaft, in der sich die Gewichtungen nicht nur im Generationen- oder Dezennienrythmus ändern, sondern in immer kürzeren Intervallen. Das weiß insbesondere die Generation Praktikum, welche sich unter bestimmten Auspizien für damals erfolgversprechende Karrieren entschieden hat, und bereits bei Ende des Studiums erkennen muß, daß sie niemand wirklich brauchen kann (oder halt bezahlen will). Diese Erfahrung machen sehr viele Jugendliche, welche nach Schule und Ausbildung den Einstieg in die Gesellschaft, welche sich zuvorderst über Werktätigkeit definiert, nicht mehr schaffen und Jahre in der Warteschleife zubringen, nur um schließlich den Einstieg verpaßt zu haben und wieder von vorne beginnen zu müssen. Ähnliche Erfahrungen machen Mütter, welche lange zuhause bei ihren Kindern geblieben sind, Arbeitlose über fünfundvierzig, insbesondere wenn sie wenig mehr als Pflichtschule haben. Und es werden mehr und mehr.
So entsteht eine Schicht der Unzufriedenen, Gedemütigten, Zornigen, Frustrierten und Deprimierten.
Diese Schwierigkeit des Einstieges und weiteren Verbleibs teilen weite Teile der Bevölkerung mit den Zugewanderten.
Die zweite Generation der Zuwanderer hat es dabei wohl am schlimmsten erwischt. In ihrer Sandwichposition haben sie eine primäre Sozialisation entlang den Prinzipien ihrer Herkunftsländer genossen, eine sekundäre in jenem Land, das sie nicht haben will, und versuchen sich nun in einem sozialen Niemandsland zu behaupten. In die Heimat ihrer Eltern können sie nicht, weil sie fremd sind, bei uns ankommen lassen wir sie allerdings auch nicht. Dafür sorgen teils die Märchen ihrer Eltern, teils die trietzigen Ausländergesetze.
Nun, ihre Kinder werden es teilweise geschafft haben. Jedenfalls werden viele von ihnen sich bereits als "autochthon" ampfinden, nicht wenige werden FPÖ wählen - siehe Pawkowicz, Kabas und Hojac. Die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern wird sie so wenig interessieren, wie die Geschichten der zukünftigen Zuwanderer - mögen es dann Inder, Chinesen oder Afrikaner sein. Vor allem weil sich die Geschichten zu sehr gleichen, und vielleicht auf den einen oder anderen immer noch traumatisch wirken. Man vererbt eben mehr, als nur sein Haus und seine Sparbücher.
Was will die SPÖ nun machen? Sie will anerkennen, daß es Probleme gibt. Sie will die Menschen wissen lassen, dass sie ihre Sorgen und Nöte kennt und sie ernst nimmt. Eigentlich hätte sie mit der alten sozialistischen Tradition der internationalen Solidarität die richtige Basis, um einer Gesellschaftsgruppe ein gemeinsames Bewußtsein zu geben. Marx hat schließlich dicke Bücher dazu geschrieben. Man müßte sie halt auf modern umschreiben. Die Kirche hat das mit der Bibel ja auch schon gemacht ("Die gute Nachricht").
Ich erinnere mich allerdings auch an den ehemaligen Innenminister Franz Löschnak, unter dessen Führung die Ausländerhetze so richtig administrativ wurde. Unter dem gleichzeitig regierenden Kanzler Vranitzky wurde die "Sozialistische" Partei zur "Sozialdemokratischen". Ideologie war verpöhnt. Dem gelernten Bänker war der freie Markt geläufiger als Marxens Kapitalkritik. Mit demselben Schmäh setzten sich Tony Blair in England ("New Labour"), Lionel Jospin in Frankreich, Gerhard Schröder in Deutschland ("Genosse der Bosse") und Romano Prodi in Italien durch.
Indem die Linke europaweit in die Mitte und darüber hinaus rückte, konnte sie nochmals für ein, zwei Legisaturperioden die Pfründe sichern. Mittlerweile ist Krise - genauso europaweit. Die Oberösterreichische Wahl ist da nur Stichwortgeber. Wobei ihre Krise nur eine im Vergleich zur Vergangenheit ist. Immer noch ist sie die zweitgrößte Volkspartei Europas. Sie könnte auch warten, bis sich die konservative totgelaufen hat, was ja mit eherner Sicherheit in vier bis acht Jahren der Fall sein wird.
Aber es geht um Macht. Und vielleicht geht es für viele auch um schlechtes Gewissen, welches bekanntlich den Schlaf raubt. Ohne ihre Ideologie kann sich die Linke allerdings nur noch in Meinungsumfragen zu verorten. Den Stolz des großen gedanklichen Wurfes vermag sie nicht mehr zu motivieren - den dazu nötigen Katapult hat sie in vorauseilendem Gehorsam selber zerstört. Selbst die Bankenkrise, welche ihrer alten Ideologie ein aufgelegter Elfmeter gewesen wäre, vermag sie nicht umzumünzen. Natürlich, es ist jenes Geflecht mit einem Schlag zerrissen, an dem sie selber mitgeknüpft hat. Die derzeitige Politikergeneration ist dermaßen Teil des zerbrochenen Systems, die haben ihren Marx schon gar nicht mehr gelesen und geglaubt, es ohne ihn schaffen zu müssen. Übrig blieb der Populismus, die Interessenvertretung wohlerworbener Rechte.
Nun kann sie nicht mal mehr das garantieren.
Ihr Dilemma und mithin der große Jammer ist, daß die Sozialdemokratie mit jenen konkurrieren muß, welche überhaupt nur und ausschließlich dem Populismus verpflichtet sind, mit jenen, denen die vier Sätze der Logik sogar dann wurscht wären, wenn sie sie wüßten. Und damit hat sie sich selbst erübrigt. "Wofür steht die SPÖ" noch?", lautet die in Österreich gestellte Frage. Sie ist rethorisch, denn die Antwort will keiner hören. Jeder weiß, daß sie peinlich sein wird. Denn das hat jene Große Bewegung, welche uns den Sozialstaat gebracht hat - ohne den sich mittlerweile auch die konservativen Volksparteien dieses Europa nicht mehr vorstellen können - einfach nicht verdient. Man will seinen Vater nicht sehen, den großen, respektierten Mann, wie er im Altersheim sitzt und weint, weil er sich nicht mehr erinnern kann, wer seine Frau war und seine Kinder nicht mehr erkennt.
Und die Abgehängten? Wollen sie hören, daß sie in der selben trüben Suppe dümpeln, in der auch die Zuwanderer sitzen? Was sagten sie, teilte man ihnen mit, daß sie mit den Nichtautochthonen ein gewaltiges Integrationsproblem gemein haben? Den Zuwanderern fehlt die Deutsche Sprache, um anzukommen - vielen Inländern die Fremdsprachenkenntnisse, um weiterzukommen. Den Zuwanderern fehlt die Ausbildung für die stabilen Jobs, den Inländern die Fortbildung, um dranzubleiben.
Und beiden fehlt es an der Bereitschaft, ein Individuum zu sein, und am Mut, seine individuellen Rechte einzufordern. Hinter allem Zorn und aller Demütigung steht die Angst, es nicht zu schaffen. Und durchaus mit Recht. Die neoliberalen Experimente werden schließlich schon seit geraumer Zeit mit ihrem mühsam erarbeiteten Kapital und ihren genauso mühsam erarbeiteten Steuergeldern geführt. Sie sind es auch, die die Krise bezahlen werden müssen, sie und ihre Kinder. Die Mächtigen der letzten Jahrzehnte haben einfach weite Teile der Bevölkerung ins Haifischbecken springen lassen, und jenen, die gebissen wurden gesagt, sie seien selber schuld. Oder vielleicht jener, der neben ihnen schwamm und sich nicht beißen lassen wollte. Die Mächtigen haben allerdings die ganze Zeit am Beckenrand zugebracht, und als die Verluste nicht mehr abwendbar waren, haben sie sich mit fetten Boni und Abfertigungen davon geschlichen. Übrig bleiben die verschiedenen Schwimmverbände: die Autochthonen, die Ausländer, die Feministinnen, die geschädigten Männer, die jugenlichen Banden der zweiten Zuwanderergeneration, die Rechtsnationalen und Autoritätsgläubigen. Und sie streiten sich immer noch darum, wer das Recht hat, sich in justament diesem und keinem andern Haifischbecken beißen zu lassen, und ob die Haifische denn überhaupt nur wegen den anderen so bissig waren, die lieben Tierchen mit ihren fetten Boni und teuren Abfertigungen.
Die SPÖ wird ein Zuwanderungspaket schnüren. Und es wird so sein, wie anlässlich des Lichtermehres im Jahr 1993 gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, als der Innenminister Löschnak aus Solidarität eine Kerze ins Fenster stellte, und wenige Wochen später das perfideste Gesetz gegen Ausländer zu erlassen, daß die Republik bis dahin gesehen hatte. Weil man sich damit noch für einige Jahre an der Macht halten konnte, gilt das innerhalb der Sozialdemokratie wohl als Erfolgsgarant. Man wird es rethorisch hübsch verpacken, damit der linke Flügel nicht wegbricht - aber der wird ohnehin froh sein, wenn der Nachwuchs am Kinderspielplatz wieder leere Schaukeln vorfindet und die verbalen Beruhigungspillen nur allzu willig schlucken.
Daneben wird es weiter Zuwanderung geben. Wir kommen ohne sie gar nicht aus. Und sie wird sich weiterhin schwer tun, bis in die dritte Generation, wenn die Enkel genügend vergessen haben, um sich als festgeklebt, angepickt, angestammt und autochthon zu empfinden. Und sie werden sich weiterhin in der Anfeindung der Zuwanderer versichern, daß sie nun wirklich dazugehören.
Das ist Österreich. Und seine Zuwanderer sollen schließlich alle Österreicher werden.
Und das werden sie. Unweigerlich.
So sehen die absoluten Zahlen aus.
Es gibt allerdings auch noch die Mathematik. Und die versteht es, Zahlen in allerlei verschieden Zusammenhänge zu bringen. Etwa jene, eine gesamte Menge als aus hundert Einheiten bestehende zu sehen. Besonders zu Vergleichen wird das gerne herangezogen. Bei Wahlen etwa: die Wahlbeteiligung ist in absoluten Zahlen gemessen stets wandelnd. Gemäß jüngsten Trends eher abnehmend.
Damit man dennoch vergleichen kann, wird prozentuiert. 24,94 statt 38,33 Prozent der abgegebenen Stimmen als Verlust für die SPÖ. Da kann man nochmals die Mathematik in Spiel bringen und sagen: der Verlust eines Drittels ihrer Wähler, während man den Freiheitlichen unterstellen kann, die Zustimmung verdoppelt zu haben.
Dieser letztgenannte Zusammenhang wird am häufigsten zitiert, um den Begriff "desaströs" zu unterstreichen.
Aber auch, um die Freiheitlichen als Sieger darzustellen.
Gehen wir nochmals auf die absoluten Zahlen zurück, da die SPÖ eindeutig mehr Zustimmung erhalten, als die FPÖ - dennoch soll sie Wunden lecken.
Neben der Mathematik werden gerne rhetorische Anleihen beim Sport oder beim Militär genommen. Da ist von Siegern und Verlierern die Rede, von Wahlkampf, von Niederlagen und so weiter. So kann man es auch sehen. Muß man aber nicht. Man könnte jede Wahl ebensogut als Messung oder Neuverteilung der politischen Gewichte sehen. Aber das Volk liebt Sieger. Die Parteien und ihre Führer stellen sich selber so dar - jedenfalls im Augenblick der zugenommenen Zustimmung. Politische Realität. Einerlei.
Das alles wollte ich nur nochmals aufzählen, um zu erklären, inwiefern sich die Sozialdemokraten nun als Verlierer sehen. Ihre 213.643 Wähler könnten sich nun aufregen: sie haben die SPÖ gewählt, und die schmollt trotzdem, nur weil es nicht mehr soviele waren wie vorher. Laut Wählerstromanalysen sind etwa 40.000 Wähler zu den Freiheitlichen gegangen. Wegen denen soll nun das Parteiprogramm umgeschrieben werden. Und die über 213.000, welche ihr Kreuz bei der SPÖ gemacht haben, weshalb werden die nun mit etwas beglückt, was jene wollten, die sich gerade bei der FPÖ wohler fühlen?
Konkret geht es um das Integrationsprogramm. Es soll umgeschrieben werden, und bevor die entsprechenden Arbeitskreise sich konstituiert haben, wissen wir alle schon, wie es werden wird: schärfer. Viele Leute fragen sich, was man da noch verschärfen könnte - sind die bestehenden, Ausländern gewidmeten Gesetze ohnehin schon längst jenseits rechtsstaatlicher Normen, wie die zahlreichen Aufhebungen durch den VfGH zeigen. Zu verschärfen gibt es da wohl nichts mehr. Aber die 40.000 Neo-FPÖ-Anhänger, so glauben wohl die meisten Sozialdemokraten, wollen noch mehr legistische Trietzerei. Zumindest hören und lesen wollen sie es, wenngleich viele von ihnen mittlerweile inmitten der Multikulturalität leben, ohne sich dessen bewußt zu sein.
Werfen wir einen Blick ins Wiener Telefonbuch, sehen wir, daß Integration schon längst Alltag ist. Sogar die Reihen der FPÖ waren mit einem Rainer Pawkowicz, einem Hilmar Kabas oder einem Peter Hojac gefüllt. Ganz zu schweigen von Vranitzky, Kreisky, Lacina oder Cap b ei der SPÖ, Busek, Kukacka oder Korosec von der ÖVP. Die Freiheitlichen reden auch schon seit geraumer Zeit nicht mehr von der "deutschen", sondern von der "autochthonen" Bevölkerung in der Hoffnung, daß die Mehrheit ihrer - eben schon längst nicht mehr deutschstämmigen - Wählerschaft nicht wirklich weiß, was das Wort bedeutet. Meinen tun sie jedenfalls ein "wir", daß nur mit spezieller Betonung oder Augenzwinkern jene Bedeutung erhält, mit der sich noch Wahlerfolge feiern lassen. Oder "angestammt", also an irgendeinen Stamm gefesselt oder geklebt, jedenfalls so, daß man sich dazugehörig fühlt und sich von irgendeinem anderen unterscheiden kann. Die Assoziation von den Fliegen, die am Fliegenstreifen picken, erspare ich mir mal auszuführen ...
Jedenfalls machen die nicht hingeklebten irgendwie Probleme. Behaupten jedenfalls die Hingeklebten. Mal können die nicht Befestigten nicht genug Deutsch - oder sollte man besser sagen, die "Landessprache", welche immerhin mit dem Deutschen verwandt ist. Wer allerdings das richtige Mehrheitsdeutsch spricht, heißt "Piefke" und macht sich damit hierzulande auch nicht beliebt. Und wer allgemein verständlich zu sprechen vermag, liefert sich ohnehin dem Verdacht aus, ein "Großkopferter" zu sein - also ein Intellektueller; vorläufig noch ein Schimpfwort in rechten Kreisen, aber das ändert sich, seit genügend Bobokinder am Spielplatz sich bei den Schaukeln nicht gegen die organisierte "Kindermafia" durchsetzen können, weil man mit denen ja nicht reden kann - "die verstehen einen ja nicht"; meint jedenfalls die Mama, weil das autochthone Kind nur "gscheit" sprechen gelernt hat, und sich gefälligst sprachlich von den Proleten fernhalten soll - ... aber ich weiche ab.
Mal wirft man den Zugewanderten vor, sie seien faul und ließen sich durchfüttern. Arbeiten sie hingegen, wird ihnen vorgeworfen, sie nähmen den Autochthonen den Arbeitsplatz weg.
Leben sie auf der Straße, sind sie eine Gefahr, weil sie bestimmt stehlen. Leben sie hingegen in einer Wohnung, so hat ein Inländer dafür keine.
Nach Jahrzehnten der Ablehnung haben sich bei den Zuwanderern verschiedene Formen des "Exilpatriotismus" entwickelt. Für uns Angestammte schaut es aus, als könnten die Türken nicht von ihrem Türkischsein lassen, weil sich immer noch türkisch reden, türkisch essen, türkisch wohnen und so weiter. Es gibt allerdings Türken, welche in der Türkei leben und mal auf Besuch kommen. Und die versichern regelmäßig, wie lustig sie die türkische Exilkultur fänden: angefangen von einer von Fremdwörtern durchsetzten Sprache, über Essensgewohnheiten, welche es in der Türkei nicht gibt, bis hin zu radikal-orthodoxem Islam, welcher in der laizistischen Türkei ohnehin einen eher schweren Stand hat. Ähnliches läßt sich über zugewanderte Polen, Rumänen, Nigerianer, Serben oder Albaner sagen. Was die Zugewanderten für Bewahren ihrer Herkunft halten, ist schon längst eine Neuschöpfung. Aber auch das müßte der autochthonen Bevölkerung bekannt sein; etwa wenn sie die diverse Titel der "Zillertaler Schürzenjäger" hört, die bass line der "Klostertaler" oder den Offbeat der jährlichen Sieger bei diversen Volksmusik-Contests.
Aber wieviele Autochthone haben noch den Sound der traditionellen Volksmusik im Ohr - jedenfalls nicht die männlichen Teens unter den Jungwählern, bei denen die FPÖ regelmäßig Spitzenreiter ist.
Ja, es gibt ein Integrationsproblem. Aber die Grenze jener, die drin sind, und jener die draußen sind, beziehungsweise jenen, welche die anderen draußen halten, die verlaufen völlig anders und lassen sich kaum über Wanderbewegungen ergründen.
Der Eiserne Vorhang hat über Jahrzehnte gewisse Entwicklungen zementiert, die mit seinem Fall erst so richtig ins Laufen gekommen sind. Seither leben wir in einer hoch dynamischen Gesellschaft, in der sich die Gewichtungen nicht nur im Generationen- oder Dezennienrythmus ändern, sondern in immer kürzeren Intervallen. Das weiß insbesondere die Generation Praktikum, welche sich unter bestimmten Auspizien für damals erfolgversprechende Karrieren entschieden hat, und bereits bei Ende des Studiums erkennen muß, daß sie niemand wirklich brauchen kann (oder halt bezahlen will). Diese Erfahrung machen sehr viele Jugendliche, welche nach Schule und Ausbildung den Einstieg in die Gesellschaft, welche sich zuvorderst über Werktätigkeit definiert, nicht mehr schaffen und Jahre in der Warteschleife zubringen, nur um schließlich den Einstieg verpaßt zu haben und wieder von vorne beginnen zu müssen. Ähnliche Erfahrungen machen Mütter, welche lange zuhause bei ihren Kindern geblieben sind, Arbeitlose über fünfundvierzig, insbesondere wenn sie wenig mehr als Pflichtschule haben. Und es werden mehr und mehr.
So entsteht eine Schicht der Unzufriedenen, Gedemütigten, Zornigen, Frustrierten und Deprimierten.
Diese Schwierigkeit des Einstieges und weiteren Verbleibs teilen weite Teile der Bevölkerung mit den Zugewanderten.
Die zweite Generation der Zuwanderer hat es dabei wohl am schlimmsten erwischt. In ihrer Sandwichposition haben sie eine primäre Sozialisation entlang den Prinzipien ihrer Herkunftsländer genossen, eine sekundäre in jenem Land, das sie nicht haben will, und versuchen sich nun in einem sozialen Niemandsland zu behaupten. In die Heimat ihrer Eltern können sie nicht, weil sie fremd sind, bei uns ankommen lassen wir sie allerdings auch nicht. Dafür sorgen teils die Märchen ihrer Eltern, teils die trietzigen Ausländergesetze.
Nun, ihre Kinder werden es teilweise geschafft haben. Jedenfalls werden viele von ihnen sich bereits als "autochthon" ampfinden, nicht wenige werden FPÖ wählen - siehe Pawkowicz, Kabas und Hojac. Die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern wird sie so wenig interessieren, wie die Geschichten der zukünftigen Zuwanderer - mögen es dann Inder, Chinesen oder Afrikaner sein. Vor allem weil sich die Geschichten zu sehr gleichen, und vielleicht auf den einen oder anderen immer noch traumatisch wirken. Man vererbt eben mehr, als nur sein Haus und seine Sparbücher.
Was will die SPÖ nun machen? Sie will anerkennen, daß es Probleme gibt. Sie will die Menschen wissen lassen, dass sie ihre Sorgen und Nöte kennt und sie ernst nimmt. Eigentlich hätte sie mit der alten sozialistischen Tradition der internationalen Solidarität die richtige Basis, um einer Gesellschaftsgruppe ein gemeinsames Bewußtsein zu geben. Marx hat schließlich dicke Bücher dazu geschrieben. Man müßte sie halt auf modern umschreiben. Die Kirche hat das mit der Bibel ja auch schon gemacht ("Die gute Nachricht").
Ich erinnere mich allerdings auch an den ehemaligen Innenminister Franz Löschnak, unter dessen Führung die Ausländerhetze so richtig administrativ wurde. Unter dem gleichzeitig regierenden Kanzler Vranitzky wurde die "Sozialistische" Partei zur "Sozialdemokratischen". Ideologie war verpöhnt. Dem gelernten Bänker war der freie Markt geläufiger als Marxens Kapitalkritik. Mit demselben Schmäh setzten sich Tony Blair in England ("New Labour"), Lionel Jospin in Frankreich, Gerhard Schröder in Deutschland ("Genosse der Bosse") und Romano Prodi in Italien durch.
Indem die Linke europaweit in die Mitte und darüber hinaus rückte, konnte sie nochmals für ein, zwei Legisaturperioden die Pfründe sichern. Mittlerweile ist Krise - genauso europaweit. Die Oberösterreichische Wahl ist da nur Stichwortgeber. Wobei ihre Krise nur eine im Vergleich zur Vergangenheit ist. Immer noch ist sie die zweitgrößte Volkspartei Europas. Sie könnte auch warten, bis sich die konservative totgelaufen hat, was ja mit eherner Sicherheit in vier bis acht Jahren der Fall sein wird.
Aber es geht um Macht. Und vielleicht geht es für viele auch um schlechtes Gewissen, welches bekanntlich den Schlaf raubt. Ohne ihre Ideologie kann sich die Linke allerdings nur noch in Meinungsumfragen zu verorten. Den Stolz des großen gedanklichen Wurfes vermag sie nicht mehr zu motivieren - den dazu nötigen Katapult hat sie in vorauseilendem Gehorsam selber zerstört. Selbst die Bankenkrise, welche ihrer alten Ideologie ein aufgelegter Elfmeter gewesen wäre, vermag sie nicht umzumünzen. Natürlich, es ist jenes Geflecht mit einem Schlag zerrissen, an dem sie selber mitgeknüpft hat. Die derzeitige Politikergeneration ist dermaßen Teil des zerbrochenen Systems, die haben ihren Marx schon gar nicht mehr gelesen und geglaubt, es ohne ihn schaffen zu müssen. Übrig blieb der Populismus, die Interessenvertretung wohlerworbener Rechte.
Nun kann sie nicht mal mehr das garantieren.
Ihr Dilemma und mithin der große Jammer ist, daß die Sozialdemokratie mit jenen konkurrieren muß, welche überhaupt nur und ausschließlich dem Populismus verpflichtet sind, mit jenen, denen die vier Sätze der Logik sogar dann wurscht wären, wenn sie sie wüßten. Und damit hat sie sich selbst erübrigt. "Wofür steht die SPÖ" noch?", lautet die in Österreich gestellte Frage. Sie ist rethorisch, denn die Antwort will keiner hören. Jeder weiß, daß sie peinlich sein wird. Denn das hat jene Große Bewegung, welche uns den Sozialstaat gebracht hat - ohne den sich mittlerweile auch die konservativen Volksparteien dieses Europa nicht mehr vorstellen können - einfach nicht verdient. Man will seinen Vater nicht sehen, den großen, respektierten Mann, wie er im Altersheim sitzt und weint, weil er sich nicht mehr erinnern kann, wer seine Frau war und seine Kinder nicht mehr erkennt.
Und die Abgehängten? Wollen sie hören, daß sie in der selben trüben Suppe dümpeln, in der auch die Zuwanderer sitzen? Was sagten sie, teilte man ihnen mit, daß sie mit den Nichtautochthonen ein gewaltiges Integrationsproblem gemein haben? Den Zuwanderern fehlt die Deutsche Sprache, um anzukommen - vielen Inländern die Fremdsprachenkenntnisse, um weiterzukommen. Den Zuwanderern fehlt die Ausbildung für die stabilen Jobs, den Inländern die Fortbildung, um dranzubleiben.
Und beiden fehlt es an der Bereitschaft, ein Individuum zu sein, und am Mut, seine individuellen Rechte einzufordern. Hinter allem Zorn und aller Demütigung steht die Angst, es nicht zu schaffen. Und durchaus mit Recht. Die neoliberalen Experimente werden schließlich schon seit geraumer Zeit mit ihrem mühsam erarbeiteten Kapital und ihren genauso mühsam erarbeiteten Steuergeldern geführt. Sie sind es auch, die die Krise bezahlen werden müssen, sie und ihre Kinder. Die Mächtigen der letzten Jahrzehnte haben einfach weite Teile der Bevölkerung ins Haifischbecken springen lassen, und jenen, die gebissen wurden gesagt, sie seien selber schuld. Oder vielleicht jener, der neben ihnen schwamm und sich nicht beißen lassen wollte. Die Mächtigen haben allerdings die ganze Zeit am Beckenrand zugebracht, und als die Verluste nicht mehr abwendbar waren, haben sie sich mit fetten Boni und Abfertigungen davon geschlichen. Übrig bleiben die verschiedenen Schwimmverbände: die Autochthonen, die Ausländer, die Feministinnen, die geschädigten Männer, die jugenlichen Banden der zweiten Zuwanderergeneration, die Rechtsnationalen und Autoritätsgläubigen. Und sie streiten sich immer noch darum, wer das Recht hat, sich in justament diesem und keinem andern Haifischbecken beißen zu lassen, und ob die Haifische denn überhaupt nur wegen den anderen so bissig waren, die lieben Tierchen mit ihren fetten Boni und teuren Abfertigungen.
Die SPÖ wird ein Zuwanderungspaket schnüren. Und es wird so sein, wie anlässlich des Lichtermehres im Jahr 1993 gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, als der Innenminister Löschnak aus Solidarität eine Kerze ins Fenster stellte, und wenige Wochen später das perfideste Gesetz gegen Ausländer zu erlassen, daß die Republik bis dahin gesehen hatte. Weil man sich damit noch für einige Jahre an der Macht halten konnte, gilt das innerhalb der Sozialdemokratie wohl als Erfolgsgarant. Man wird es rethorisch hübsch verpacken, damit der linke Flügel nicht wegbricht - aber der wird ohnehin froh sein, wenn der Nachwuchs am Kinderspielplatz wieder leere Schaukeln vorfindet und die verbalen Beruhigungspillen nur allzu willig schlucken.
Daneben wird es weiter Zuwanderung geben. Wir kommen ohne sie gar nicht aus. Und sie wird sich weiterhin schwer tun, bis in die dritte Generation, wenn die Enkel genügend vergessen haben, um sich als festgeklebt, angepickt, angestammt und autochthon zu empfinden. Und sie werden sich weiterhin in der Anfeindung der Zuwanderer versichern, daß sie nun wirklich dazugehören.
Das ist Österreich. Und seine Zuwanderer sollen schließlich alle Österreicher werden.
Und das werden sie. Unweigerlich.
messingherz - 6. Okt, 17:21