Die Antwort

Die Nacht kann nicht mehr lange dauern. Heute ist mir eine Glühbirne ausgefallen. Ich habe sie mit einer Energiesparlampe ersetzt, und nun leuchtet meine stille Kammer in einem seltsamen grünlichen Licht. Die Gespenster sind etwas irritiert. Aber das sind sie ohnehin. Sie sind es nicht gewohnt, dass ich mich ihnen so ohne weiteres Zögern stelle, sie ernst nehme, mir ihre unsinnigen Fragen anhöre.

Ich habe sie im Verdacht, dass ihre Frage eine Falle ist. Sie wollen keine Antwort haben, es gibt keine Antwort. Die Frage ist so gestellt, dass es gar keine Antwort geben kann. Denn solange ich keine Antwort finde, beschäftige ich mich mit ihnen. Meine Hinwendung hat mir meine Angst vor ihnen genommen, und - was sie wohl nicht wussten - meine Angst erst hat sie zu den mächtigen Figuren in meinem Leben gemacht.
Ich gebe zu, dass ich mehr und mehr Mitleid mit ihnen verspüre. Es ist ein stolzes Geschlecht, das die Nacht beherrscht. Bei Licht besehen, und sei es nur das grünliche einer Energiesparlampe, ist es ein jämmerlicher Haufen jämmerlicher Gesellen. Früher dachte ich, dass ich ihnen im Weg stünde, wenn sie des nachts durch meine Kammer rumpelten. Mittlerweile habe ich sie im Verdacht, ihre wahren Motive für ihre nächtlichen Besuche zu verbergen:

Ich bin ihr Licht.

Ich bin das einzige, woran sie sich in ihrer Ewigkeit, in der es weder Anfang noch Ende gibt, in der jeder Augenblick gleich gilt wie der nächste, gäbe es denn solche überhaupt in dieser Ununterscheidbarkeit des Gleichgültigen, ich bin das einzige, woran sie sich halten können.

In meinem Denken gibt es ein Vorher und ein Nachher. Vor allem: es gibt ein Erkennen. Ich dachte, die Gespenster dürften nicht wirklich wissen, was ich von ihren verbogenen Fratzen halte. Aber nun weiß ich, dass es ihnen einerlei ist, sie wollen, dass sie jemand sieht, dass sich jemand Gedanken um sie macht, und seien es schlechte, hässliche, spöttische Gedanken. Niemand sonst kümmert sich mehr um sie. Nicht mal die Kinder ängstigen sich noch: "Mein Papa sagt, euch gibt es gar nicht." Altkluge Zwerge. Was soll aus denen bloß mal werden? Manager und Putzfrauen - mehr braucht die Zukunft nicht mehr.

Niemand weiß, dass die Gespenster in allerlei Gestalt ihr Unwesen treiben, denn sie suchen uns Menschen in ihrer Verzweiflung. Nichts ist schlimmer als im Nichts leben zu müssen, ohne selbst ein Nichts zu sein. Als Etwas im endlosen Meer zu ertrinken ohne die Gnade des Todes. Die Menschen wenden sich dem Licht und seinen hell erleuchteten Gesetzen zu und vergessen darob die Welt der Finsternis. Gäbe es nicht jene, die verurteilt sind, in der Nacht zu wachen und den Gespenstern Gestalt zu verleihen.
Sie saßen früher und beobachteten die Sterne, saßen am Lagerfeuer und erzählten die Geschichten, als die Gespenster noch unter uns weilten, damit sie nicht in Vergessenheit gerieten, sie saßen beim Kerzenschein und schrieben traurige Gedichte.
Heute sitzen sie beim bläulichen Schimmer eines Monitors und schreiben nachts - verborgen, aber nicht so verborgen, dass sie nicht doch noch gefunden werden können. Die Nachtbuchschreiber halten die Gespenster im Zaum und glauben in ihrer Einsamkeit, sie täten das nur für sich alleine.

Vor vielen Jahren träumte mir ein Traum:
"Ich sehe einen Einsiedler, einen heiligen Mann. Er ist bereits so heilig, dass es auf dieser Welt nichts mehr für ihn zu tun gibt, sodass er bald ins Nirvana eingehen wird. Da steht der Teufel vor ihm. Er hat gehört, dass dieser Einsiedler alles Böse überwunden hätte. Der Teufel ist es leid, immer all die bösen Taten der Welt zu tragen. Er wendet sich nun an den Heiligen Mann, um bei ihm zu beichten, um endlich Ruhe zu finden. Alle anderen Menschen könnten den Anblick all der Bosheit nicht ertragen. Der heilige Mann sieht darin wohl seine letzte große Bestimmung, und heißt den Teufel an der Schwelle seiner Einsiedelei niederknien. Wie der Teufel nun mit der Beichte beginnt, sieht der Einsiedler plötzlich alle Sünden, die er in seinem Leben begangen hat, die er also gar nicht überwunden, sondern die er einfach auf den Teufel geworfen hat. Er erkennt im selben Augenblick, dass er alles andere als heilig ist, sondern schlichtweg blind, sodass er nicht merkte, wohin seine Sünden gegangen sind. In diesem Augenblick öffnet sich die Erde und verschlingt ihn."

Es gibt Träume, die mehr sind als nur ein spaßiges Zerlegen und Neuzusammensetzen des Tagesgeschehens. Sie sind wie Gleichnisse. Selten träumen sie mir, viel seltener, als ich ihrer bedürfte. Wenn denn ein solcher eintritt, zehre ich lange Jahre von ihm. Auch diesen habe ich noch nicht zu Ende verstanden. Aber er zeigt mir, wie viel Gegensatz in einem kleinen Menschlein Platz haben muss, damit er ein ganzer bleibt.
Auch ich kenne die Leere in mir, aber ich traue ihr seither nicht mehr. Sie macht mich nervös. Ich blicke um mich, und weiß, dass der Teufel nicht weit sein kann. Denn wenn ich meine, da gibt es nichts mehr, hat er schon von mir gehört und ist auf dem Weg zu mir. "Komm, Bruder, hilf mir meine Last zu tragen."

Er ist übervoll mit allem, was wir auf ihn werfen, weil es uns zu schwer geworden ist. Aber es ist nicht aus der Welt. Am Ende werden wir alle ins Licht jenseits der Finsternis eingehen. Der Teufel ist der, der zuletzt kommen wird, der, welcher die Türe hinter sich zu macht. Er ist der Torhüter.

Der Einsiedler glaubte, der Teufel beichtete an der Schwelle zur Einsiedelei, aber es war doch er selber, der an der Schwelle stand und seine letzte Prüfung ablegte, und es zu spät bemerkte.
Übrigens war er wirklich soweit, sonst wäre nicht der Teufel höchst selbst erschienen, um ihm den weiteren Weg zu weisen, nämlich jenen nach unten ins Reich der Schatten, auf die andere Seite. Der Einsiedler hatte erst die Hälfte des Programms absolviert - sozusagen die Unterstufe. Weil er so erfolgreich darin war, trat er über die Schwelle in die Oberstufe.

Zu mir kommt kein Teufel. Noch lange kommt er nicht. Aber wenn er kommt, so bringt er, was zu mir gehört. So wie das Christkind zu Weihnachten die lichten Geschenke bringt, bringt der Teufel die dunklen. Wie das Christkind das Licht in der Finsternis ist, so ist der Teufel der Schatten, den das Licht gebiert, wenn es am Zenit steht.
Vorerst übe ich an meinen Gespenstern. Deswegen habe ich die Nacht aufgesucht, die große finstere Leere, um mein Auge für die Schatten zu schärften. Vielleicht kann ich danach wieder einige Wochen im Licht leben, ohne diesen Sog nach innen.

Aber ganz unten, wenn ich tief in mich hineingehe, wenn ich den Gespenstern nachspüre, und selbst dort noch hingehe, wo sich nur noch deren Schatten hin wagen, dort gibt es ein weitverzweigtes Netz an Höhlengängen. Am Eingang dieser Pforte konnte ich nicht mehr weitergehen. Hier beginnt ein Tabubezirk. Ich fragte den ausgedünnten Schatten nach der Bewandtnis dieses Verbotes, wissend, dass diese Verbote aufgeblasene Wichtigtuer sind, und hinter der Drohung nicht Geheimnis, sondern Lächerlichkeit verbergen.

Da, meinte es, beginnt der Andere.

Welcher andere? Der gemeinhin Andere, der Nicht-Ich, von denen die Wissenschaftler des Lichtes in ihrer Erbsenzählermanier behaupten, es gäbe derer sechs Milliarden und mehr. Aber, so belehrte es mich, für den, der hier eintritt, gibt es nur einen. Ich schlug das Verbot lachend in den Wind. Und trat ein. In diesem Moment verblasste ich, und als ich an mir herunter sah, war ich selbst ein Schatten geworden, ein bleicher nebelgrauer Schädel mit einem bläulichen Funkeln in den Augenhöhlen.

Und da verstand ich die Bewandtnis meiner Gespenster:
Es sind die Menschen, die des nächtens träumen, die in ihren Träumen ins Nichts schreien, so wie ich es im Wachen tue. Mein Gedanke ist in diesem finsteren Nichts der einzige Ruf, der sich dort anfühlt, wie ein Sturmwind, und alle Gespenster wenden sich in ihrer Verzweiflung dem einzigen zu, das nur irgendwie anders ist, als das finstere Nichts. In der Nacht des Anderen werde ich zum Gespenst, wie der andere in meiner Nacht zu meinem wird. Denn es gibt nur eine Nacht, die uns ständig umgibt, wenngleich sie in der Sonne für kurze Zeit unsichtbar wird.

Immer noch irren die Gespenster durch mein finstere Kammer. Ich denke, dass ich ihre Frage beantwortet habe. Aber sie gehen nicht. Es ging ihnen nie um eine Antwort. Es ist wie bei den Fragen der kleinen Kinder, sobald sie das Fragen entdeckt haben: eine Antwort verschafft ihnen keine Ruhe, sondern lässt sie nur neue Fragen erfinden.
Die Gespenster werden sich nicht in Luft auflösen. Ihre Frage bleibt - aber es ist nicht die, die sie gestellt haben. Den richtigen Satz soll ich wohl selber finden. Ich, der ich nicht einmal meine eigene Frage in die rechten Worte zu gießen vermag. Aber ich bin der einzige in dieser Nacht, der wacht. Wer soll sich sonst den Kopf zerbrechen, schlafen doch alle anderen und träumen die Träume vom Christkind, das ihnen jene Geschenke bringt, die sie sich als Kinder nicht zu wünschen trauten. Nein, ich weiß, dass ich nicht der einzige bin, der in dieser Nacht wacht.

Ich weiß, es gibt Menschen, die in ewiger Nacht leben und dauernd von Gespenstern bestürmt werden, und es längst aufgegeben haben, sie ihren mild lächelnden Therapeuten zu beschreiben. Ich bin nicht das einzige Licht, und ich ahne, dass ich bei weitem nicht das hellste bin unter jenen, die keinen Schlaf finden. Denn ich werde weiterziehen, wie ich immer weiterziehe. Aber es gibt jene, die ihr ganzes Leben mit offenen Augen in die Finsternis starren. Und ich weiß jetzt zumindest, weshalb sie es tun, auch wenn sie es selbst nicht wissen.

Denn so wie es Menschen gibt, die heilig sein wollen, und deshalb alles Böse auf den Teufel werfen, so gibt es Menschen, die vernünftig sein wollen, und deshalb alles Unvernünftige auf die Verrückten werfen. Es wird immer Menschen unter uns geben, die das tragen müssen, was anderen zu schwer wird. Und es sind wohl die Stärksten unter uns, welche diesen Weg des Lastentragens wählen, auch wenn wir es ihnen nicht ansehen.
Und sie es mir nie glauben würden.

Es mag Zeiten geben - es gab sie und sie werden wieder kommen - da finden die Menschen keinen Schlaf und die Träume finden keinen Ort, an dem sie sich strecken können, und drängen ans Licht und verfinstern es. Dann muss jeder dieser Ungeübten sich seinen eigenen Gespenstern stellen, obwohl ihm schon sein Papa gesagt hat, dass es keine Gespenster gibt.
Dann wird wieder ein Troja brennen, ein Magdeburg fallen und die endlosen Züge nach Dachau fahren. Das Messingherz ist dann hoffentlich weit, weit weg vom Puls der Geschichte, knapp hinter dem laufenden Hasen, wenn er früh genug verstanden hat, wie er läuft.
Er wird wachen, damit er nicht zum Schatten in den Träumen der Ungeübten wird.

Das haben ihn die Gespenster gelehrt.

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