Die Freiheit, die keiner wollte

Die Franzosen haben eine Bastille gestürmt, die Amerikaner eine Kolonialarmee geschlagen, die Italiener einen Staat geeint, um heute als selbständige Nationen dazustehen.

Österreich hingegen verdankt seine heutige Größe etlichen verlorenen Kriegen. Was die Habsbugerprinzessinnen in den Ehebetten des europäischen Hochadels eroberten, verspielten die Österreichischen Generäle wieder auf den Schlachtfeldern.
Es mag dem österreichischen Konservativismus zuzurechnen sein, daß sich das Habsburgerreich derart lange samt seinem monarchistischen Gepränge hielt. Am Ende konnten sich allerdings auch die Österreicher nicht der Geschichte verschließen. Ein Vielvölkerstaat, dessen Zusammenhalt auf Gott und Kaiser beruhte, hatte einfach nicht mehr das Zeug, die Leute zusammenzuhalten.

Seit dem 19. Jahrhundert standen die historischen Zeichen auf "Nationalstaat". Was man genau darunter verstehen sollte, war ebenso Gegenstand dieser Geschichte, wie seine Durchsetzung und sein Scheitern.
Links des Rheins setzte sich eine eher territoriale Vorstellung von "Nation" durch, während man auf der anderen Seite bis weit in den slawischen Raum hinein seine nationale Zugehörigkeit durch seine Abstammung erhielt. Ein Deutscher war Deutscher, weil er von Deutschen abstammte, egal wo er genau das Licht der Welt erblickte. Das Erbe solch eines Ius Sanguinis bildet natürlich bei den heutigen Migrationsströmen eine erhebliche Integrationsbarriere. Ein Territorium kann man betreten, irgendwie anpassen kann man sich auch. Eine Abstammung hingegen ist nur schwer zu ändern.

Primär gehört man nach rechtsrheinischer Nationalideologie einem Volk an, welches erst in zweiter Hinsicht einer Scholle bedarf. Darauf beriefen sich die Kriege der Nazis, wie auch Proponenten der Balkankriege der letzten Dekaden. Schließlich hängt auch noch sowas wie ein weiblich oder besser mütterlich konnotierter Begriff von "Heimat" an dieser Scholle, welche das Volk beackert. Alles in allem eine recht schwerfällige Materie, welche wohl auch unwiderbringlich im Archiv der Geschichte landen wird. Moderne Wirtschaftsformen finden ganz einfach woanders statt.

Als der Erste Weltkrieg begann, war es für Österreich eine ausgemachte Sache, daß man zu Weihnachten wieder zu Hause war. Und zwar plante man die Rückkehr als Held. Dementsprechend war der Jubel zu Beginn des Feldzuges gegen Serbien. Man war bereits Held - die passende Tat mußte halt noch nachgeliefert werden. Das Versprechen blieb ein unerfülltes. Man fand die Schuldigen in den Habsburgern, welche abgesetzt, und den Aristokraten überhaupt, denen man das Tragen ihrer Titel verbot. Vom Jubel vier Jahre zuvor wollte niemand mehr etwas wissen.

Als 1918 klar wurde, daß nicht nur der Krieg, sondern das gesamte Kaiserreich verloren war, wurde die Republik ausgerufen. Ihr war keine Revolution vorausgegangen. Noch wenige Wochen zuvor ließen sich die Truppen in eine gewaltige und aussichtslose Offensive am Piave treiben, um schließlich vor lauter Kriegsmüdigkeit alles liegen uns stehen zu lassen und Richtung Heimat zu strömen. Die neuen Grenzen wurden schließlich in Saint Germain gezogen, und zwar nicht von Revolutionären, sondern von den Siegern eines aus österreichischer Sicht verlorenen Krieges - also von anderen. Das moderne Österreich wurde als Rest dessen geboren, was man unter aufopfernder Anteilnahme der gesamten Bevölkerung zu bewahren versucht hatte.

Aber selbst dieser neue Staat kam nicht dorthin, wohin die Bevölkerung wollte. Ganz Europa teilte sich in Nationen auf. Nach rechtsrheinischer Anschauung sahen sich die Österreicher als Deutsche, verbunden in Sprache, Schrift und Vergangenheit. Die Siegermächte hingegen verboten den Anschluß an Deutschland, ließen nicht mal die Bezeichnung "Deutsch-Österreich" zu. So saß man in einem Staat, für den niemand gekämpft hatte, innerhalb von Grenzen, welche andere gezogen hatten unter einer Bezeichnung, welche ebenso aufoktroyiert worden war. Einen schlechteren Start konnte man sich wohl kaum vorstellen. Es begann auch gleich mit Hungersnot, Epidemien und politischen Streitereien.

An diesem Trauma am "Staat, den keiner wollte" arbeiteten sich die Österreicher fast zwanzig Jahre mehr oder weniger ergebnislos ab. Zentrum war die ehemalige Residenzstadt, nunmehr Hauptstadt Wien - viel zu groß für das kleine Land, und noch Jahrzehnte später vom ruralen Rest als "Wasserkopf" diffamiert und als Gegensatz zur gesunden, alpinen Bodenständig betrachtet.
Die verhandelten Alternativen dieser Zeit waren Rückkehr zur Monarchie, Diktatur, Demokratie, um die wesentlichsten zu nennen, diese auch noch in den verschiedensten ideologischen Ausprägungen. Nun, in jener Zeit fanden solche Diskussionen in ganz Europa statt. Österreich allerdings mußte es unter dem Banner der zusammengedrängten Verlierer tun. Die Diskussionen hatten also nicht den Charakter des Freiwilligen, des Zukünftigen, sondern des letzten, was nach einer vernichtenden Niederlage übriggeblieben war. Die Aristokratie hatte über lange Zeit die Elite gestellt, der politische Diskurs war nie gepflegt worden. Jetzt da er möglich gewesen wäre, fand er auch nicht statt - es waren einfach zuwenige dazu in der Lage. Der schließlich errichtete Ständestaat hätte von Bauern und Pfaffen entworfen sein können. Das war also der Zukunftsentwurf des Staates, der ohnehin immer lieber was anderes gewesen wäre. Dieses andere nicht aus eigenem erreichen zu können, kam einer nationalen Impotenz gleich.
"Republik Österreich" zu sein, war das Brandzeichen, das die Siegermächte diesem Land gegen seinen Willen aufgedrückt hatten. Die Freiheit hatte hier schon den Beigeschmack der Niederlage.

So gesehen hatte Adolf Hitler leichtes Spiel. Er ließ sich von den Siegern des Weltkrieges keinerlei Vorschriften machen. So wollten die Österreicher auch sein. Alles, was man mit diesem Staat erhalten hatte, war verzichtbar, selbst die Freiheit tauschte man gerne gegen nationale Größe, derer man teilhaftig wurde.
Auch dieses Experiment endete in einer Niederlage - noch vernichtender, als die vorangegangene. Diesmal hatte man die Feinde sogar im eigenen Land, und etliche hielten sich schadlos. Zum Unglück kam noch die Verantwortung, daran teilgenommen zu haben. Da konnten die Österreicher sich noch so oft als besetzte Nation ausgeben. Im Grunde ihres Herzens wollten sie dabeisein, hatten sie die Überlegenheit empfunden, als die ersten Siegesmeldungen aus Polen und dann aus Frankreich eintrafen, und waren stolz auf ihr Dabeisein bei der großen deutschen Sache.

Ein Trauma durchzumachen ist schlimm, und nur wenige sind dazu verdammt, dasselbe ein zweites Mal durchleben zu müssen. Österreich ist so ein Unglücksrabe. Im Versuch, aus der unseligen Verantwortung davonzukommen, stellten sich die Österreicher als "erstes Opfer" Hitlers dar. Das hieß aber auch, zu akzeptieren, was sie zuvor niemals gewesen sein wollten, ein kleiner Staat mit einer viel zu großen Hauptstadt innerhalb von Grenzen, welche andere gezogen hatten, mit einer Bezeichnung, auf welche jene bestanden, die man nicht zu seinen Freunden zählte.
Und durch diese nachgereichte "deutsche Okkupation" kam Österreich erst zu seinem Patriotismus. Mitsamt den dazugehörigen Mythen, wie der großen Geschichte, der Kunst- und Kulturnation, der friedliebenden Neutralität und so weiter und so fort. Ein heroischer Freiheitskampf war leider kaum auffindbar. Wenn Österreicher große Soldaten sein wollen, müssen sie bis Prinz Eugen zurück, als für Ideale gekämpft wurde, welche nicht mehr unsere sein sollten. Was andere als stolze Symbole ihrer Nation hochhalten, in Österreich gibt es solches nicht.

Die Gründerväter standen vor dem gewaltigen Problem, einer Bevölkerung, welche viele ihrer Kinder für die Sache des Großdeutschen Reiches verloren hatte, einzutrichtern, daß das alles ja gar nicht freiwillig geschehen sei. Das zeitigt bis heute seltsame Verrenkungen: einerseits war man besetzte Nation, andererseits hatten die Soldaten doch nur ihre Pflicht getan, als sie mithalfen, ein Reich zu erweitern, welches uns doch eigentlich besetzt hielt. Logisch kommt man aus diesem Widerspruch nicht mehr heraus. Es war bestimmt kein leichtes, diesen neuen Staat zu formen, nun, da man irgendwie akzeptieren mußte, kein Großreich mehr zu sein und auch an keinem mehr teilnehmen zu können. Österreich war neutral und übte sich in Selbstgenügsamkeit.
In der in den Fünzigerjahren gedrehten Sissy-Trilogie von Ernst Marischka wurde eine politisch unbedeutende Monarchin stellvertretend für die Große Österreichische Vergangenheit gestellt. Völlig vergessen schien das verfassungsrechtlich immer noch gültige Habsburgerverbot. Die Alliierten befreiten uns von der Diktatur, vom Terror, vom Krieg. Die Kollateralschäden dieser Befreiung wären nicht nötig gewesen, hätten sich die Österreicher früh genug gegen ihre deutschen "Besatzer" erhoben. Damals gab es natürlich keine Österreicher - alle waren sie Deutsche. Österreicher waren sie danach. Immer schon gewesen. Zwischenzeitlich halt besetzt und so.

Bis in die Siebzigerjahre brachten Umfragen regelmäßig zu tage, daß die Österreicher ihre Nation eigentlich als eine deutsche empfanden. Innenpolitisch war es der Wohlstand, außenpolitisch der Kalte Krieg, welche uns über alle logischen Widersprüche hinwegtrugen. Als in den Achtzigern die Rezession ausbrach, und insbesondere nach dem Fall der Berliner Mauer, brach der innenpolitische Konsens zusammen. Die Waldheim-Affäre und der Aufstieg der rechtsradikalen Freiheitlichen Partei thematisierten ein weiteres Mal diesen ungelösten Widerspruch, welcher in die Zweite Republik getragen wurde. Dort stehen wir jetzt gerade, bei einer Innenpolitik, welche politisch immer weiter nach rechts driftet. Tiefenpsychologisch ist das vielleicht sowas wie eine kollektive Traumabearbeitung, welche sich unsere Großväter erspart haben.

Man kann es durchaus witzig finden, daß die Indikatoren für Patriotismus mittlerweile in Österreich europaweit am höchsten sind; besonders wenn man bedenkt, daß dieser Höhenflug mit dem Beitritt zur Europäischen Union einsetzte. Inhaltlich trägt er wenig - bei genauerem Hinsehen ist es ein eigentümliches bis abstruses Konglomerat aus Nachkriegsmythen, Deutschtümelei und Lokalkolorit. Seine Stabilität bezieht er vor allem aus der Abgrenzung. Zu den Ausländern (unter Mißachtung der Vielvölkervergangenheit), zu den Bonzen (welche allerdings in jeder Wahl erneut bestätigt werden), zu den Europäern (wenngleich man sich auf der anderen Seite mit dem Titel "christliches Abendland" vom Islam absetzen möchte), zu den Piefkes (obwohl man sich sonst gerne zur "deutschen Kultur" bekennt).

Die logischen Widersprüche lösen sich meines Erachtens auf, wenn man die besondere Geschichte der Österreichische Nationenbildung betrachtet. Staatswerdung geschah immer über Autokratie, zur Freiheit ist man vom siegreichen Gegner gezwungen worden. Man nahm es an - den Widerwillen ist man allerdings nie losgeworden. Die politischen Freiheiten, welche die Demokratie bringt, und die individuellen, welche Menschenrechte und Rechtsstaat sichern sollten, sie wurden nicht erkämpft, und können nicht den Status der Mythenumrankung aufweisen, wie die verblichene Monarchie und die Dolchestoßlegenden der Nazizeit. Die Nachkriegsmythen beschreiben, daß man sich der politischen Moderne nur angeschlossen hatte, um die Sowjets loszuwerden. Ansonsten wollte man irgendeinen österreichischen Weg gehen - und verfiel allzu oft in die Versuchung, das "besser Deutschland" zu sein, eine Konkurrenz, welche eigentlich schon bei Königgrätz entschieden worden war.
Übrig blieben ein paar Abfahrtsolympiasiege und das lächerliche "Wunder von Cordoba" 1978.

Die Nationenbildung ist noch nicht abgeschlossen. Ob allerdings die anstehende Postdemokratie den Rahmen bilden kann, um ausständige Klärungen nachzuliefern, bleibt abzuwarten.

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