Die Rückkehr der Nacht
Die Nächte werden wieder länger. Sie werden schwerer und drängen sich wieder in mein Leben. Und natürlich kommen die Gespenster wieder. Wann sonst, wenn nicht in der Nacht. Noch sind sie sozusagen etwas verschlafen. Die Nächte sind noch nicht so lang, dass sie so richtig auf Touren kämen. Einerlei. Solange sie schlaftrunken im Schatten liegen, fliegen meine Gedanken noch wie Schmetterlinge auf der Frühlingswiese. Am Horizont ballen sich schon die Wolken, dunkelgraue Wetterwolken, einen heißen Wind vor sich hertreibend, der uns noch einmal in der Sicherheit der gleißenden Sonne wiegen möchte.
Ich bin immer noch mit Arbeitsuchen beschäftigt. Die Herrschaften vom AMS sind mir ganz schön auf den Fersen. Weil ich mir nie den Tort einer Berufsausbildung angetan habe, werde ich dort offensichtlich als Hilfsarbeiter klassifiziert. Trotz Matura. Nun, in der Vergangenheit habe ich das auch schon gemacht, und die Art der Arbeit stört mich wenig. Wichtiger ist mir, wie nett meine Kollegen sind, oder wieviel sich der Chef herausnehmen zu dürfen glaubt. Da kann auch Lagerarbeit ganz lustig sein. Der Kopf bleibt frei, man hat etwas körperliche Bewegung, und so ein Lager hat immer viele Winkel und Nischen, um sich mal auf ein Bier und ein paar Zigaretten zurückzuziehen, ohne dass es zu sehr auffällt. Ja, und rauchen kann man in der Unterschicht auch noch ohne schlechtes Gewissen. Im akademischen Prekariat ist das mittlerweile schon waffenscheinpflichtig. Steht neben mir irgendwann so ein Brille mit Pickeln, gerade mal die Fachhochschule hinter sich, und fürchtet den nahen Tod, weil ich mir neben ihm eine anzünde. Was glaubt der wohl? Nur weil er die Fachhochschule geschafft hat, ist er jetzt unsterblich? Auch ihn wird es noch früh genug erwischen. Und der Tod der Nichtraucher wird nicht weniger lang und schmerzlich sein, als der der Raucher. Er wird halt ein paar Jahre später kommen - wenn ihnen nichts sonst dazwischenkommt, Aufounfälle, irgendwelche andere Krebse oder so. Außerdem stirbt der Freund einer Freundin gerade einen schmerzlichen Lungenkrebstod. Hat immer viel Sport getrieben und nie geraucht. Das soll jetzt nicht triumphierend sein oder die Nikotinsucht beschönigen, sondern nur daran erinnern, dass man auch ohne Nikotin sterben wird. In der derzeitigen Diskussion fällt das meines Erachtens etwas zu oft unter den Tisch.
Zurück zum Lagerhalten. Ich habe schon Vorschläge vom AMS bekommen, und mich bereits als arbeitswilliger Lagerist vorgestellt. Ich bin wie aus dem Ei gepellt mit schwarzem Anzug und weißem Hemd in diese staubige Höhle gegangen, und - bevor der Lagerleiter sich pflichtschuldigst verneigt hat - habe ich ihn nach Erwerbsarbeit gefragt. Er war etwas verwundert, auch als ich ihm erzählte, wieviel ich vor fünf Monaten verdient hatte. Damit war es auch schon erledigt, weil er mir nicht glauben wollte, dass ich die Bewerbung ernst meinte. Ich hätte es aber tatsächlich genommen, hätte er mich genommen. Sechs, sieben Monate wieder mal richtig zu arbeiten, wäre mal eine Abwechslung gewesen. Stempeln gehen kann ich dann ja wieder. Ich bin nicht nur frei, zu lassen, was mir nicht paßt, sondern auch frei, unvernünftige Dinge zu tun.
Als Kind habe ich mal so eine solipsistische Theorie aufgestellt: Stell Dir vor, alles wäre nur ein Theater, nur Kulisse und Schauspieler, ein Experiment, mit mir als einzigem "echtem" Menschen. Ja, erinnert an die "Truman Show" mit Jim Carrey. So ähnlich habe ich mir das auch vorgestellt.
Das hat mich damals so lange fasziniert, bis ich bemerkte, dass so ungefähr jeder zweite meiner Freunde ebenfalls schon von selber auf irgendeine Solipsismus-Variante gekommen war. Was mich dann aber weiter beschäftigte, war die Frage, wie man, so es tatsächlich wahr wäre, wie man denn das ganze durchschauen könnte. Die Idee, die mir kam war, dass man unerwartete Dinge tun mußte. Das Experiment lief darauf hinaus, dass ich seit meiner Kindheit auf dieser Bühne war, dass alles, was ich wußte, sozusagen "vorgekaut" war, dass ich nur Dinge zu hören und verstehen kriegte, welche der Große Regisseur zuließ, und dabei so plante, dass er mich bis in die hintersten Winkel meines Unbewußten steuern konnte. Deswegen wußte er auch, dass er beispielsweise Johannesburg nicht wirklich als Potemkinsches Dorf aufstellen mußte, weil ich ja nie nach Südafrika kommen würde. Südafrika mußte folglich nur auf der Landkarte existieren.
Aber es gab auch in den Straßen der Stadt, wo ich lebte, viele Türen, durch die ich all die Jahre nie durchging, weil es einfach keinen Grund dafür gab. Deshalb waren das auch "tote" Türen, also reine Fassaden, sie wurden für das Theaterstück, indem ich unbewußt die Hauptrolle über hatte, einfach nicht gebraucht. Da war also die Schwachstelle, und dort mußte ich ansetzen, um den Regisseur zu entlarven. Ich mußte unlogische Dinge tun. Sobald ich für irgendwas einen guten Grund hatte, griff schon die jahrelang dauernde Programmierung. Also mußte ich Dinge tun, wenige Augenblicke nachdem sie mir in den Sinn kamen. Etwa durch eine Stadt laufen, mich auf eine bestimmte Absicht konzentrieren, dann plötzlich zur Seite treten, die nächstbeste Türe aufreißen und schauen, ob dahinter auch tatsächlich ein ausgestalteter Raum war.
Na ja, bevor ich weit genug war, das alles zu realisieren, knallten mir die ersten Hormone ins Blut, die Mädchen wurden wichtig, und ich hatte ab da andere Gründe, mich unglücklich zu fühlen.
Aber die Idee, unvernünftige Dinge zu tun, um gewissermaßen den Boden meines Bewußtseins etwas zu lockern, die habe ich noch immer. Deswegen tue ich auch manchmal Dinge, für die ich keinen wirklich guten Grund oder Lust habe. Nachdem mich die Vernunft nie wirklich weitergebracht hat, hat auch die Unvernunft ihren Platz im Leben. Da wären wir wieder bei den Gegensätzen, über die ich schon so viel geschrieben habe, und vielleicht wieder schreiben werde, sollten mir die Gespenster wieder darob zusetzen.
Im Lager zu arbeiten wäre also etwas für mich ungeplantes, unvernüftiges, sinnloses. Es läßt sich nicht mal viel damit verdienen. Und dass ich mit präpotenten Lagerleitern so ohne weiteres klar käme, kann ich mir schlecht vorstellen. Aber bestimmt nicht weniger fad, als in einem Büro zu sitzen. Leider ist es mit einer sehr schlechten Reputation behaftet. Das mit dem Ruf ist allerdings etwas sehr relatives, zu viele Idioten haben eine hervorragende Reputation, sodaß ich mir nicht mehr sicher bin, ob ein "guter" Ruf noch wünschenswert ist. Es hat so was rechtschaffenes.
Rechtschaffenheit. Das war in den Siebzigern ein Begriff, den wir endgültig in die Geschichtsbücher der moralinsauren Analen verbannt zu haben glaubten. Irrtum. Nehmen wir etwa den Nichtraucherhype. Man kann ja wenig gegen dagegen sagen, dass es gesundheitsschädigend ist. Als Raucher hat man ohnehin keine sehr guten Argumente - die Unvernunft gilt nur in meinem kleinen Kosmos als guter Grund. In Diskussionen muss man sich schnell geschlagen geben. Die Nichtraucher haben aber sowas seltsam "rechtschaffenes", wenn sie von Gesundheitsbewußtsein reden. Und wieder müssen die "armen Kinder" herhalten. Natürlich nur die, welche es über die ersten drei Monate im Uterus hinaus geschafft haben. Davor war man nur Zellhaufen.
Dann gibt es noch Fett und Zucker im Essen, das man meiden soll. Man soll sich immer genau an die Geschwindigkeitsbeschränkungen halten. Man soll sich nicht betrinken, und man soll eine Pensionsversicherung abschließen.
Und das sind nicht etwa Leute, die aus der Mangelwirtschaft der Nachkriegszeit stammen, wo man eine gewisse Spießigkeit wenigstens noch ökonomisch erklären könnte. Nein, vor meinem geisten Auge habe ich einen Studenten der Angewandten Kunst. Ein zukünftiger "Künstler". Nix mehr mit "live hard, die young". Oder sich wenigstens ein Ohr abschneiden. Offensichtlich will der junge Mann seinen Ruhm nicht der Nachwelt überlassen, sondern noch bei rüstiger Gesundheit genießen. Da wundere ich mich nicht mehr, dass die Kunst so blutleer ist. Wenn sich die Künstler schon vor dem Sterben fürchten, wie wollen sie dann bis an die Grenzen gehen und uns Geschichten vom Rande der Welt erzählen, von dort, wo sie aufhört und der Ozean ins Nichts kaskadiert.
Wahrscheinlich glaubt er auch noch daran, dass die Welt tatsächlich rund sei.
Die jungen Leute würden auch nie akzeptieren, nännte ich sie rechtschaffen. Sie heißen sich wohl "gesundheitsbewußt" oder so. Einerlei.
Sie haben Angst.
Die Kinder der Nachkriegszeit haben den Hunger gefürchtet, weil sie ihn erlebt haben, und von da an hat sie die Vorsorge umgetrieben. Aber die Jungen des jungen Milleniums, die fürchten gerade mal, dass sie nicht den besten Ausbildungsplatz kriegen, sondern nur den zweitbesten. Oder dass sich der Aktienkurs zu volatil entwickelt. Eigentlich die rechte Gesinnung fürs Sparbuch, wäre das nicht zu uncool und die Leute zu geldgierig.
Am Ende haben sie ja doch nur Angst, dass sie sich irgendwann nichts mehr kaufen können. Ohne etwas zu kaufen, sind die meisten Menschen hilflos. So hat uns der Kapitalismus schließlich alle zu Konsumenten gemacht. Wer nicht mehr konsumieren kann, existiert nicht mehr. Der ähnelt jenen Verstorbenen, die noch nicht begriffen haben, dass sie tot sind, und unsichtbar unter den Lebenden umherirren und sich wundern, dass ihnen keiner mehr auf ihre Fragen antwortet. Sie kapieren nicht, dass sie tot sind, sondern glauben, sie seien verstoßen, weil sie offensichtlich nicht mehr konsumieren können. Daran merkt man, dass man tot ist, wenn die Verkäuferin die Kreditkarte nicht mehr akzeptiert und der Bankomat nichts mehr ausspuckt, weil die Finger immer ins Leere tippen.
Was sind wir nur alle für Idioten geworden?!
Da lobe ich mir die Armut. Sie wirft mich auf mich selber zurück und zeigt mir, was für ein Zwerg ich bin. Der Unterschied zu den anderen liegt einzig darin, dass ich es nun weiß. Die anderen halten sich noch immer für Riesen. Wir kaufen keine Güter, sondern Illusionen. Die Gegenstände sind nur Träger dieser Träume vom Großen Leben. In Wirklichkeit liegen wir in Spitalsbetten, hängen an Infusionen und träumen innerhalb der Matrix.
Kurze Unterbrechung: jetzt muß ich die Uhr beobachten, weil ich das umspringen auf die Sommerzeit erleben will. Pling! Das war`s. Für den Nachtwachenden ist das gleichgültig. Umstellen muß ich mich ohnehin. Jetzt erfolgt selbige um eine Stunde schneller. Eigentlich brauchen Nächte wie diese keine Uhr. Es braucht keinen Kreis, ein langsames Pendel genügte. Eines, dass einmal links, dann langsam nach rechts ausschlägt, Nacht und Tag anzeigend, Wachend und Schlafend. Die Großen Gegensätze. Sie beginnen bereits ihr unheiliges Spiel, beginnen zwischen den Dingen hervorzuschimmern und mich zwischen sich zu ziehen. Nein, ich werde keine Entscheidung fällen, ich werde keiner von beiden recht geben, ich werde sie ertragen, den dünnen Blitzfaden zwischen den elektrischen Polen, wenn der Funke überspringt und ich zum unsichtbaren Wolframfaden werden, der die Schwarze Nacht erhellt und den Gespenstern eine Mitte gibt.
Die Wirklichkeit. Warum kommt jeder Mensch irgendwann in seiner Jugend auf den Solipsismus? Was zuerst faszinierend wirkt, und jeden zu immer mehr Ausschmückung anreizt, wird plötzlich beängstigend. Es ist die Unwiderlegbarkeit, welche jeden sich irgendwann davon abwenden läßt. Oder man studiert Psychologie. Es ist die Idee der totalen Einsamkeit, aus der man nicht mehr herauskommt, wenn man sich einmal darin vertieft hat. Man verbleibt mit der Hoffnung, dass man sich doch geirrt haben könnte. Leider hat man das nicht. Das Höhlengleichnis holt jeden irgendwann ein.
Der "subjektive Standpunkt" hat die letzten Jahrhunderte vor sich her getrieben. Da haben Menschen an etwas geglaubt und sich anderen, die das partout nicht nachvollziehen konnten, mit Gewalt aufgedrängt. Denn wo das Argument nicht mehr zieht, geht mit Gewalt immer noch was. Ideologien haben das nicht besser gemacht. Und die Wissenschaft? Es gibt den berühmten Ausspruch von Karl Popper, als er in einer Diskussion über die Kongruenztheorie nichts anderes mehr zu antworten wußte als "Ich glaube an die Vernunft". Recht hat er. Aber die Unvernunft hat er dabei vergessen. An die sollten wir auch glauben, damit wir die Wirklichkeit verstehen können.
Ha, jetzt gebe ich schon Sir Charles Ratschläge. Ich muß aufpassen. Die Einsamkeit kann ganz schön arrogant machen. In meiner kleinen Wohnung kann ich mich aufblasen wie eine bedrohte Kröte, und niemand stutzt mich mit dem verdienten Gelächter zurecht, damit ich den rechten Maßstab nicht verliere.
Ich bin immer noch mit Arbeitsuchen beschäftigt. Die Herrschaften vom AMS sind mir ganz schön auf den Fersen. Weil ich mir nie den Tort einer Berufsausbildung angetan habe, werde ich dort offensichtlich als Hilfsarbeiter klassifiziert. Trotz Matura. Nun, in der Vergangenheit habe ich das auch schon gemacht, und die Art der Arbeit stört mich wenig. Wichtiger ist mir, wie nett meine Kollegen sind, oder wieviel sich der Chef herausnehmen zu dürfen glaubt. Da kann auch Lagerarbeit ganz lustig sein. Der Kopf bleibt frei, man hat etwas körperliche Bewegung, und so ein Lager hat immer viele Winkel und Nischen, um sich mal auf ein Bier und ein paar Zigaretten zurückzuziehen, ohne dass es zu sehr auffällt. Ja, und rauchen kann man in der Unterschicht auch noch ohne schlechtes Gewissen. Im akademischen Prekariat ist das mittlerweile schon waffenscheinpflichtig. Steht neben mir irgendwann so ein Brille mit Pickeln, gerade mal die Fachhochschule hinter sich, und fürchtet den nahen Tod, weil ich mir neben ihm eine anzünde. Was glaubt der wohl? Nur weil er die Fachhochschule geschafft hat, ist er jetzt unsterblich? Auch ihn wird es noch früh genug erwischen. Und der Tod der Nichtraucher wird nicht weniger lang und schmerzlich sein, als der der Raucher. Er wird halt ein paar Jahre später kommen - wenn ihnen nichts sonst dazwischenkommt, Aufounfälle, irgendwelche andere Krebse oder so. Außerdem stirbt der Freund einer Freundin gerade einen schmerzlichen Lungenkrebstod. Hat immer viel Sport getrieben und nie geraucht. Das soll jetzt nicht triumphierend sein oder die Nikotinsucht beschönigen, sondern nur daran erinnern, dass man auch ohne Nikotin sterben wird. In der derzeitigen Diskussion fällt das meines Erachtens etwas zu oft unter den Tisch.
Zurück zum Lagerhalten. Ich habe schon Vorschläge vom AMS bekommen, und mich bereits als arbeitswilliger Lagerist vorgestellt. Ich bin wie aus dem Ei gepellt mit schwarzem Anzug und weißem Hemd in diese staubige Höhle gegangen, und - bevor der Lagerleiter sich pflichtschuldigst verneigt hat - habe ich ihn nach Erwerbsarbeit gefragt. Er war etwas verwundert, auch als ich ihm erzählte, wieviel ich vor fünf Monaten verdient hatte. Damit war es auch schon erledigt, weil er mir nicht glauben wollte, dass ich die Bewerbung ernst meinte. Ich hätte es aber tatsächlich genommen, hätte er mich genommen. Sechs, sieben Monate wieder mal richtig zu arbeiten, wäre mal eine Abwechslung gewesen. Stempeln gehen kann ich dann ja wieder. Ich bin nicht nur frei, zu lassen, was mir nicht paßt, sondern auch frei, unvernünftige Dinge zu tun.
Als Kind habe ich mal so eine solipsistische Theorie aufgestellt: Stell Dir vor, alles wäre nur ein Theater, nur Kulisse und Schauspieler, ein Experiment, mit mir als einzigem "echtem" Menschen. Ja, erinnert an die "Truman Show" mit Jim Carrey. So ähnlich habe ich mir das auch vorgestellt.
Das hat mich damals so lange fasziniert, bis ich bemerkte, dass so ungefähr jeder zweite meiner Freunde ebenfalls schon von selber auf irgendeine Solipsismus-Variante gekommen war. Was mich dann aber weiter beschäftigte, war die Frage, wie man, so es tatsächlich wahr wäre, wie man denn das ganze durchschauen könnte. Die Idee, die mir kam war, dass man unerwartete Dinge tun mußte. Das Experiment lief darauf hinaus, dass ich seit meiner Kindheit auf dieser Bühne war, dass alles, was ich wußte, sozusagen "vorgekaut" war, dass ich nur Dinge zu hören und verstehen kriegte, welche der Große Regisseur zuließ, und dabei so plante, dass er mich bis in die hintersten Winkel meines Unbewußten steuern konnte. Deswegen wußte er auch, dass er beispielsweise Johannesburg nicht wirklich als Potemkinsches Dorf aufstellen mußte, weil ich ja nie nach Südafrika kommen würde. Südafrika mußte folglich nur auf der Landkarte existieren.
Aber es gab auch in den Straßen der Stadt, wo ich lebte, viele Türen, durch die ich all die Jahre nie durchging, weil es einfach keinen Grund dafür gab. Deshalb waren das auch "tote" Türen, also reine Fassaden, sie wurden für das Theaterstück, indem ich unbewußt die Hauptrolle über hatte, einfach nicht gebraucht. Da war also die Schwachstelle, und dort mußte ich ansetzen, um den Regisseur zu entlarven. Ich mußte unlogische Dinge tun. Sobald ich für irgendwas einen guten Grund hatte, griff schon die jahrelang dauernde Programmierung. Also mußte ich Dinge tun, wenige Augenblicke nachdem sie mir in den Sinn kamen. Etwa durch eine Stadt laufen, mich auf eine bestimmte Absicht konzentrieren, dann plötzlich zur Seite treten, die nächstbeste Türe aufreißen und schauen, ob dahinter auch tatsächlich ein ausgestalteter Raum war.
Na ja, bevor ich weit genug war, das alles zu realisieren, knallten mir die ersten Hormone ins Blut, die Mädchen wurden wichtig, und ich hatte ab da andere Gründe, mich unglücklich zu fühlen.
Aber die Idee, unvernünftige Dinge zu tun, um gewissermaßen den Boden meines Bewußtseins etwas zu lockern, die habe ich noch immer. Deswegen tue ich auch manchmal Dinge, für die ich keinen wirklich guten Grund oder Lust habe. Nachdem mich die Vernunft nie wirklich weitergebracht hat, hat auch die Unvernunft ihren Platz im Leben. Da wären wir wieder bei den Gegensätzen, über die ich schon so viel geschrieben habe, und vielleicht wieder schreiben werde, sollten mir die Gespenster wieder darob zusetzen.
Im Lager zu arbeiten wäre also etwas für mich ungeplantes, unvernüftiges, sinnloses. Es läßt sich nicht mal viel damit verdienen. Und dass ich mit präpotenten Lagerleitern so ohne weiteres klar käme, kann ich mir schlecht vorstellen. Aber bestimmt nicht weniger fad, als in einem Büro zu sitzen. Leider ist es mit einer sehr schlechten Reputation behaftet. Das mit dem Ruf ist allerdings etwas sehr relatives, zu viele Idioten haben eine hervorragende Reputation, sodaß ich mir nicht mehr sicher bin, ob ein "guter" Ruf noch wünschenswert ist. Es hat so was rechtschaffenes.
Rechtschaffenheit. Das war in den Siebzigern ein Begriff, den wir endgültig in die Geschichtsbücher der moralinsauren Analen verbannt zu haben glaubten. Irrtum. Nehmen wir etwa den Nichtraucherhype. Man kann ja wenig gegen dagegen sagen, dass es gesundheitsschädigend ist. Als Raucher hat man ohnehin keine sehr guten Argumente - die Unvernunft gilt nur in meinem kleinen Kosmos als guter Grund. In Diskussionen muss man sich schnell geschlagen geben. Die Nichtraucher haben aber sowas seltsam "rechtschaffenes", wenn sie von Gesundheitsbewußtsein reden. Und wieder müssen die "armen Kinder" herhalten. Natürlich nur die, welche es über die ersten drei Monate im Uterus hinaus geschafft haben. Davor war man nur Zellhaufen.
Dann gibt es noch Fett und Zucker im Essen, das man meiden soll. Man soll sich immer genau an die Geschwindigkeitsbeschränkungen halten. Man soll sich nicht betrinken, und man soll eine Pensionsversicherung abschließen.
Und das sind nicht etwa Leute, die aus der Mangelwirtschaft der Nachkriegszeit stammen, wo man eine gewisse Spießigkeit wenigstens noch ökonomisch erklären könnte. Nein, vor meinem geisten Auge habe ich einen Studenten der Angewandten Kunst. Ein zukünftiger "Künstler". Nix mehr mit "live hard, die young". Oder sich wenigstens ein Ohr abschneiden. Offensichtlich will der junge Mann seinen Ruhm nicht der Nachwelt überlassen, sondern noch bei rüstiger Gesundheit genießen. Da wundere ich mich nicht mehr, dass die Kunst so blutleer ist. Wenn sich die Künstler schon vor dem Sterben fürchten, wie wollen sie dann bis an die Grenzen gehen und uns Geschichten vom Rande der Welt erzählen, von dort, wo sie aufhört und der Ozean ins Nichts kaskadiert.
Wahrscheinlich glaubt er auch noch daran, dass die Welt tatsächlich rund sei.
Die jungen Leute würden auch nie akzeptieren, nännte ich sie rechtschaffen. Sie heißen sich wohl "gesundheitsbewußt" oder so. Einerlei.
Sie haben Angst.
Die Kinder der Nachkriegszeit haben den Hunger gefürchtet, weil sie ihn erlebt haben, und von da an hat sie die Vorsorge umgetrieben. Aber die Jungen des jungen Milleniums, die fürchten gerade mal, dass sie nicht den besten Ausbildungsplatz kriegen, sondern nur den zweitbesten. Oder dass sich der Aktienkurs zu volatil entwickelt. Eigentlich die rechte Gesinnung fürs Sparbuch, wäre das nicht zu uncool und die Leute zu geldgierig.
Am Ende haben sie ja doch nur Angst, dass sie sich irgendwann nichts mehr kaufen können. Ohne etwas zu kaufen, sind die meisten Menschen hilflos. So hat uns der Kapitalismus schließlich alle zu Konsumenten gemacht. Wer nicht mehr konsumieren kann, existiert nicht mehr. Der ähnelt jenen Verstorbenen, die noch nicht begriffen haben, dass sie tot sind, und unsichtbar unter den Lebenden umherirren und sich wundern, dass ihnen keiner mehr auf ihre Fragen antwortet. Sie kapieren nicht, dass sie tot sind, sondern glauben, sie seien verstoßen, weil sie offensichtlich nicht mehr konsumieren können. Daran merkt man, dass man tot ist, wenn die Verkäuferin die Kreditkarte nicht mehr akzeptiert und der Bankomat nichts mehr ausspuckt, weil die Finger immer ins Leere tippen.
Was sind wir nur alle für Idioten geworden?!
Da lobe ich mir die Armut. Sie wirft mich auf mich selber zurück und zeigt mir, was für ein Zwerg ich bin. Der Unterschied zu den anderen liegt einzig darin, dass ich es nun weiß. Die anderen halten sich noch immer für Riesen. Wir kaufen keine Güter, sondern Illusionen. Die Gegenstände sind nur Träger dieser Träume vom Großen Leben. In Wirklichkeit liegen wir in Spitalsbetten, hängen an Infusionen und träumen innerhalb der Matrix.
Kurze Unterbrechung: jetzt muß ich die Uhr beobachten, weil ich das umspringen auf die Sommerzeit erleben will. Pling! Das war`s. Für den Nachtwachenden ist das gleichgültig. Umstellen muß ich mich ohnehin. Jetzt erfolgt selbige um eine Stunde schneller. Eigentlich brauchen Nächte wie diese keine Uhr. Es braucht keinen Kreis, ein langsames Pendel genügte. Eines, dass einmal links, dann langsam nach rechts ausschlägt, Nacht und Tag anzeigend, Wachend und Schlafend. Die Großen Gegensätze. Sie beginnen bereits ihr unheiliges Spiel, beginnen zwischen den Dingen hervorzuschimmern und mich zwischen sich zu ziehen. Nein, ich werde keine Entscheidung fällen, ich werde keiner von beiden recht geben, ich werde sie ertragen, den dünnen Blitzfaden zwischen den elektrischen Polen, wenn der Funke überspringt und ich zum unsichtbaren Wolframfaden werden, der die Schwarze Nacht erhellt und den Gespenstern eine Mitte gibt.
Die Wirklichkeit. Warum kommt jeder Mensch irgendwann in seiner Jugend auf den Solipsismus? Was zuerst faszinierend wirkt, und jeden zu immer mehr Ausschmückung anreizt, wird plötzlich beängstigend. Es ist die Unwiderlegbarkeit, welche jeden sich irgendwann davon abwenden läßt. Oder man studiert Psychologie. Es ist die Idee der totalen Einsamkeit, aus der man nicht mehr herauskommt, wenn man sich einmal darin vertieft hat. Man verbleibt mit der Hoffnung, dass man sich doch geirrt haben könnte. Leider hat man das nicht. Das Höhlengleichnis holt jeden irgendwann ein.
Der "subjektive Standpunkt" hat die letzten Jahrhunderte vor sich her getrieben. Da haben Menschen an etwas geglaubt und sich anderen, die das partout nicht nachvollziehen konnten, mit Gewalt aufgedrängt. Denn wo das Argument nicht mehr zieht, geht mit Gewalt immer noch was. Ideologien haben das nicht besser gemacht. Und die Wissenschaft? Es gibt den berühmten Ausspruch von Karl Popper, als er in einer Diskussion über die Kongruenztheorie nichts anderes mehr zu antworten wußte als "Ich glaube an die Vernunft". Recht hat er. Aber die Unvernunft hat er dabei vergessen. An die sollten wir auch glauben, damit wir die Wirklichkeit verstehen können.
Ha, jetzt gebe ich schon Sir Charles Ratschläge. Ich muß aufpassen. Die Einsamkeit kann ganz schön arrogant machen. In meiner kleinen Wohnung kann ich mich aufblasen wie eine bedrohte Kröte, und niemand stutzt mich mit dem verdienten Gelächter zurecht, damit ich den rechten Maßstab nicht verliere.
messingherz - 30. Mär, 19:15