Gespenster verjagen

Nun ist die Zeit, wo die Gespenster aus dem Schatten der Nacht treten. Wenn ich zulange auf die leise Bewegung im Halbdunkel achte, gar auf sie starre, so werden aus den Schemen Fratzen. Bereits als kleines Kind wusste ich das: wenn man zu sehr an Gespenster denkt, kommen sie. Ein Medium versicherte mir mal, dass die Gespenster nicht an uns heran kämen, weil unsere Schale des Bewusstseins zu dick dafür sei. Ich hoffe sie hat recht. Also werde ich nun ganz angestrengt nachdenken, um die Wände meiner Bewusstseinsschale stark gegen den Ansturm der Dämonen zu machen.

Mir fällt ein Satz ein: "Herr gib mir Kraft, zu ändern, was ich ändern kann, zu ertragen, was ich nicht ändern kann, und die Erkenntnis, das eine vom anderen zu unterschieden."

Kling gut der Satz. Ich sehe allerdings unter der Mönchskutte wieder eine Bocksbein heraus schauen. Die Menschen sollen funktionieren. Und weil die Mächtigen mittlerweile auch zu faul zum nachdenken sind, sollen die Menschen dort, wo der Mächtige keine Idee mehr hat, sich gefälligst selber was einfallen lassen. Sie sollen die bitteren Pillen schlucken, die man ihnen füttert, und wenn gerade keine vorrätig sind, sollen sie sich selber was zum Essen suchen. Und sie sollen auch noch selber riechen, wann es sich lohnt, sich in der langen Schlange anzustellen, und wann nicht.

Es ist ein Satz, der eigentlich eine Beschönigung des totalen Chaos ist: es gibt Dinge, die kann man ändern, und solche, die kann man nicht ändern, und außer dem lieben Gott, kann das schon gar niemand mehr auseinander halten. Deswegen bittet man ihn um diese Erkenntnis. Mit diesem Satz soll die völlige Ratlosigkeit wenigstens strukturiert werden. Man kann sich nun mit der Suche nach dem Änderbaren aufreiben. Falls man es nicht gefunden hat, war man eben zu blöd. Oder hat nicht gut genug zugehört, als Gott wieder mal gesprochen hat. Irgendwo im Herzen oder sonst wo. Und - das ist wohl die Grundthese der letzten zwanzig Jahre - man ist selber schuld. Weil man zu blöd oder zu faul war. "Herr, lehre meinen Hund, dass, wenn ich sage, 'Komm her oder nicht', er her kommt oder nicht."

Wenn ich so denke, wie ich es gelernt habe, komme ich auch immer wieder zum Schluss, dass alles an mir hängt. Ich halte das allerdings für Ideologie. Wenn ich eine Gesamtschau versuche, sehe ich sehr wohl Zusammenhänge, die um Welten größer sind, als ich und nach denen ich mich richten muss. Diese Gesamtschau kann allerdings alles dermaßen gut erklären, dass ich mich selber wieder im Verdacht habe, hier Ideologie zu betreiben.

Meiner Erfahrung nach sind die schlüssigen Erklärungen ohnehin die fragwürdigsten. Es gibt sie in der Wissenschaft. Die Voraussetzung dafür ist die Aufteilung des gesamten Wissensspektrums in viele Teile, die jede für sich eine eigene Theorie gründen darf. Dies als Voraussetzung lässt alles erklärbar machen. Ich fragte mal einen Studenten der Physik, ob denn nun schon bekannt sei, ob Licht nun Wellen oder Teilchen sei. Wir hatten in der Schule zwei Modelle basierend auf zwei Theorien gelernt, wobei je nach Fragestellung mal die eine, mal die andere zur Anwendung kam. Dass ausgerechnet Licht, dass uns täglich umgibt, so unbekannt war, faszinierte mich damals. Die Antwort des Physikers war entlarvend: er wüsste es nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Die beiden Modelle waren ausreichend, um alle derzeit offenen Fragen zufriedenstellend zu beantworten. Das Wesen des Lichts, so seine Auskunft, sei ohnehin nicht Thema der Physik. Es ginge dort nur um die Berechnung. Wir rätselten gemeinsam, wer denn nun für diese Frage zuständig sei. Er tippte auf die Philosophen, wohingegen ich sicher wusste, dass in der Währinger Straße keine solchen Fragen erörtert wurden.

Seit dieser Episode habe ich den Respekt vor den Wissenschaftlern verloren. Nicht, dass ich ihr Wissen nicht anerkenne oder nicht benutze. Aber nur weil ein "Wissenschaftler" etwas sagt, Kraft seines weißen Kittels sozusagen, heißt das noch lange nicht, dass das auch stimmt. Falsch ist es auch nicht . Meistens ist es ganz einfach - irrelevant. Pointierter drückte es Oscar Wilde aus: "Beweisen kann man alles - sogar die Wahrheit."

Die Reinheit der Lehre ist also etwas ausgesprochen fragwürdiges. Eine Anschauung ist meines Erachtens dann gut, wenn sie Lücken lässt, und mit diesen Lücken respektvoll umzugehen weiß. Deswegen fasziniert mich von allen Anschauungen der Daoismus (Taoismus) am meisten. Nirgends sonst fand ich eine so wortkarge Welterklärung, die gleich von Beginn an klarstellt, dass das, was in den folgenden Absätzen kommt, nicht so ganz wahr ist, weil die Wahrheit schließlich eine wortlose ist: "Der Sinn, den man erkennen kann, ist nicht der letzte Sinn. Der Begriff, den man benennen kann, ist nicht der eigentliche. Im Unfassbaren liegt der Welt Beginn, nennbar wird nur, was Gestalt gewinnt." Natürlich macht einen das auf Anhieb nicht klüger. Und mit banalem Auswendiglernen - einundachtzig Absätze kann man schnell auswendig - hat man noch nichts begriffen. Sekundärliteratur ist - wenn man den ersten Absatz gelesen hat - ohnehin ein Witz. Was aber nicht bedeutet, dass es nicht Tonnen von Kommentaren zum Dao De Jing (Taoteking) gibt.

Die Fragen des modernen Menschen beantwortet dieses schmale Bändchen allerdings nicht. Respektive, vielleicht hat es sehr wohl Antworten, aber wenn man dem nachgeht, ist man die längste Zeit ein moderner Mensch gewesen:

"... Die Menschen lustwandeln so fröhlich,
als ob das Leben ein einziges Volksfest wäre,
als ob alle auf des Maien Höhen gingen.
Ich allein bin verlassen
und weiß nicht, was ich tun soll.
Wie ein Kind bin ich,
das noch nicht lächeln kann,
wie ein Flüchtling, der keine Heimat mehr hat.
Die anderen haben die Fülle,
ich habe nichts.
Ich bin voller Einfalt, wie ein Tor, -
es ist zum Verzweifeln!
Froh und vergnügt sind die anderen,
gedrückt und traurig bin ich!
Umsichtig sind sie, voll munteren Strebens,
bei mir aber rührt sich nichts.
Unruhig, wie die Wogen des Meeres,
so walle ich dahin.
Mich wirbelt das Leben umher,
als ob ich haltlos wäre.
Das Leben der anderen hat Sinn und Zweck,
das meine nur scheint unnütz und leer.
Ich allein bin anders, als die anderen; -
doch sei still, mein Herz:
Du lebst am Herzen der Weltenmutter ..."

Nicht sehr ermutigend, aber sehr realistisch. Zumindest für einige unter uns. Und - die letzte Zeile bedenkend - die Voraussetzung dafür, auf dem Weg zu bleiben. Hier jedenfalls wird nichts unmittelbar verändert, noch akzeptiert. Es wird gesucht - und diese Suche hat etwas stoisches, die sich an nichts Gestalthabendem zu orientieren vermag. Ein Zustand, der in der modernen Auffassung in die Psychiatrie und chemisch eingestellt gehört, ein schwerer Mangel an Orientierung. Im Gespräch mit dem Therapeuten würde die Erklärung " ... ich bin meinem Dao gefolgt ... " jedenfalls mit der Frage belohnt "Und, wohin hat es Sie geführt?".

Meiner Meinung nach, kommen wir nicht an der Tatsache vorbei, im Chaos zu leben. Die Zivilisation hat es irgendwie selber gewollt. Na ja, so eigentlich nicht. Man wollte die Freiheit der Entscheidung - dass man sich damit auch die Ratlosigkeit eingehandelt hat, wusste man damals wohl nicht. Damals waren die Dinge klar - welchen Beruf man ergreift, wen man heiratet, welche Kleidung man trägt, an welchen Gott man glaubt - das war alles dermaßen klar, dass man sich gar nicht vorstellen konnte, es gäbe hier was zu entscheiden. Die Industrialisierung drängte die Menschen allerdings aus allen überkommenen Strukturen. Die großen Erklärungen verloren daraufhin ihre Gültigkeit. Das ist so, als trete man in den Tabubezirk, beschlösse nun sein Leben, und es passiert - gar nichts. Weil der ganze religiöse Zauber nur eine riesen Trara war.

Da fällt mir wieder eine lustige Geschichte ein, eine über das Ende der Indianer:

Es war ein Volk, dessen Sippen über die Prärie verstreut war, die sich aber jährlich einmal im Jahr trafen, nämlich zur Frühjahrs-Tagundnachtgleiche. Gemeinsam versammelten sie sich an diesem Morgen und, mit viel Tanz und Ritual, hoben sie den Sonnejungen in die Höhe - sie betrieben also magische Praktiken, welche sicherstellten, dass die Sonne höher stieg. Täten sie dies nicht - so ihre Auffassung - sänke der Sonnenjunge wieder herunter und der Winter käme zurück. Sie hatten dieses Ritual seit Menschengedenken eingehalten - also nie die Gegenprobe gemacht, sie waren ja auch keine Wissenschaftler - und sahen darin auch den tiefen kosmischen Sinn ihrer Existenz. Sie bewahrten die Welt vor dem ewigen Winter. Sie mussten also nie wirklich über den Sinn ihres Lebens nachdenken - der war ja offensichtlich. Deswegen hielten sie diesen Brauch auch bei, als sie von den weißen Einwanderern schwer bedrängt wurden. Jedes Jahr war die Schar der Welterretter kleiner. Aber sie behielten ihre Rituale bei - sie hätten ja auch sagen können, wir pfeifen drauf, und die Weißen sollen sich für diesen Sommer schon gleich mal warm anziehen. Es kam wie es kommen musste: irgendwann kamen nur noch ganz wenige alte Menschen zum Ritualplatz. Die Weißen hatten das Volk völlig aufgerieben. Sie konnten die Rituale nicht mehr durchführen. Stattdessen setzten sie sich zusammen, beobachteten, wie der Sonnenjunge seinen Lauf begann, und waren sich sicher, dass er nun gleich den Bogen nach unten schlagen und das Ende der Welt besiegeln würde.
Und was war: die Sonne tat das gleiche, wie jedes Jahre. Da wurde den Alten klar, dass sie sich seit Menschengedenken was vorgemacht hatten.

Und das, behaupte ich, das hat die Indianer wirklich umgebracht.

Wir können nun weiter spekulieren, ob sie dasaßen und weinten, weil sie nun die letzten Idioten waren und den Untergang verdient hatten, oder ob sie lachten, über den besten Witz seit Menschengedenken. Ich behaupte, sie legten ihre traditionellen Gewänder ab, gingen zur nächsten Stadt, kauften sich jeder ein paar Jeans samt Boots und betranken sich kräftig im Saloon. Wo sie noch heute stehen und trinken - denn was sollten sie in diesem Leben sonst noch tun.

So ergeht es irgendwie allen von uns, wenn wir an etwas glauben. Als Kinder glauben wir an die Macht des Vaters, und müssen irgendwann mit ansehen, wie der große Zampano ganz kleinlaut wird, weil er nach zwei Krügerln in eine Polizeikontrolle kommt. Die Polizei selbst wird immer wieder mal als korrupt überführt. Und was die Regierung so tut, das können wir derzeit gerade in der Zeitung mitverfolgen. Nach Auschwitz noch an die Geschichten vom lieben Gott zu glauben, ist im besten Fall ignorant - im schlimmeren grenzt es schon an Wiederbetätigung. Man kann noch an die Wissenschaft glauben - meines Erachtens auch ein Glaube, wenn auch einer, der derzeit noch nicht diesen Nimbus hat. Aber spätestens beim nächsten Paradigmenwechsel werden die heutigen Klugscheißer wie Deppen aussehen. Es gibt übrigens immer noch Physiker, die nicht an die Relativitätstheorie glauben. Offenbar auch eine Glaubensfrage.

Was ist nun die große Erkenntnis? Im zwanzigsten Jahrhundert - die Epoche der Bilderstürmer und Tabubrecher - glaubte man noch, dass es genügt eine Illusion als solche zu erkennen, was automatisch die Wahrheit ans Tageslicht brächte. Sigmund Freud hatte seine gesamte Theorie darauf aufgebaut. Die ganze Zeit hindurch wurden Illusionen beseitigt und Tabus gebrochen. Was man aber dahinter fand, galt vielleicht eine Generation lang als Wahrheit. Die Kinder der Bilderstürmer - die sich wohl von den großartigen Heldentaten ihrer Väter hatten inspirieren lassen - rissen auch diesen Vorhang beiseite. Und die Kindeskinder detto. Irgendwann hat wohl einer gefragt, ob sich der nächste Vorhang denn noch lohnt, ob man sich den sicher sei, dass dahinter nun endlich irgend eine Spur von Wahrheit sei. Denn hinter jedem Vorhang erschien nur ein neuer. Die Neunziger haben den Konstruktivismus eingeführt, die Anschauung, dass es gar nicht möglich ist, etwas sinnvolles über die Wahrheit zu sagen, sondern jeder, der was für wahr hält, eigentlich nur Auskunft über sich selber gibt. Das war Wasser auf die Mühlen der Neoliberalen - wahr ist das, was die Mehrheit als solche ansieht. "Anything goes". Wie bereits früher einmal erwähnt, war Osama bin Laden dann doch anderer Ansicht und hat damit das drohende Ende der Geschichte verhindert. Geistesgeschichtlich betrachtet werden wir ihm einmal so dankbar sein müssen, wie dem Judas.

Die meisten Menschen reagieren darauf mit Ironie. Da kann man alles meinen und nichts sagen. Glauben tun die Leute immer noch - aber so heimlich, wie man früher masturbiert hat, was man ja heute schon in einer Talkshow tun kann. Wer an etwas glaubt, gibt es nicht zu, und wenn doch, macht er sich nur lächerlich damit.

Noch nie war so viel Wissen in unseren Bibliotheken versammelt. Noch nie gab es so viele Bücher. Noch nie war soviel Information zugänglich wie im world wide web. Noch nie hatten die Menschen so viel Bildung - und noch nie waren die Menschen ratloser. Und das soll das aufgeklärte Zeitalter sein, das soll die moderne Wissenschaft sein, das alles, um am Ende vieles zu meinen, aber nichts zu wissen?

Das Messingherz weiß allerdings auch nicht mehr. Insofern sollte er sich etwas zurückhalten mit seinem Spott. In der Einsamkeit der Nacht gibt es eben niemanden, der ihm früh genug Einhalt gebietet, der dazwischen fährt und ihn um konstruktive Gegenvorschläge bittet. Spätestens dann würde er sehr still und nachdenklich, und müsste zugeben, dass es niemandem zu verdenken ist, wenn er wenigstens ein bisschen Orientierung sucht, sei's in einer Ideologie, in einer Religion, in der Liebe oder wenigstens im Sarkasmus. Wenn er da und dort Scheuklappen aufsetzt, weil er sich nicht auch noch umd dies und jenes kümmern will. Weil er irgendwann seine Schlapfen anziehen, sein Bier aufmachen und das Fußballspiel genießen möchte.

Irgendwann wird jeder müde und hungrig. Und wenn man nur das sicher weiß, das ist doch schon etwas.

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