Nachtbuch

Kein Tagebuch. Ich schreibe nicht bei Tag. Bei Licht fällt mir nichts ein, da bin ich zu abgelenkt. Ich schreibe auch wenig darüber, was mir so täglich passiert. Dazu ist mein Leben einfach zu langweilig. Mir jedenfalls. Ich schreibe eher über das, was nicht ist, aber sein sollte. Oder keinesfalls passieren darf. Ein Schreiben im Konjunktiv, ohne ihn explizite zu gebrauchen. Zu kompliziert zum Schreiben und zum Lesen. Ich schreibe also über das Nicht-Seiende, eine Nicht- oder Gegen-Tagebuch.
Um also Negationen zu vermeiden – von denen werde ich noch mehr verwenden, als mir lieb ist – habe ich das Nachtbuch gewählt.

Ein Nachtbuch hatte ich schon mal, als Gegensatz zum "Tagebuch". Damals arbeitete ich als Nachtwächter. Und da ich immer nachts meine Gedanken aufschrieb, aber im durchwegs regelmäßigen Modus des alltäglichen - oder besser: allnächtlichen - wurde ein "Nachtbuch" daraus.

Ich las mal irgendwo, jeder Mensch hätte seinen eigenen Schlafrhythmus. Es gäbe also solche, die bräuchten nach ca. fünfzehn Stunden schon ihre achtstündige Mütze Schlaf, andere hingegen wären erst nach siebzehn Stunden soweit. Dann variiert natürlich auch noch das Schlafbedürfnis. Erstere wären die Morgenmenschen, die immer furchtbar früh schlafen gehen und schon in aller Hergottsfrüh munter sind. Die anderen bilden zusammen die Gruppe der Nachtmenschen, die eben lange aufbleiben und noch länger schlafen. Also bei mir hat ein Tag fünfundzwanzig Stunden. Mein achtstündiges Schlafbedürfnis tritt erst nach siebzehn Stunden ein. Ergibt zusammen fünfundzwanzig - solange dauert des re.bus` Tag. Als Teil der Werktätigen geht das natürlich nicht, da will ein Chef meine Wenigkeit immer pünktlich sehen, also jeden 24-Stunden-Tag zur selben Zeit. Deswegen gehe ich, wenn ich den gesellschaftlichen Pflichten nachgehe, zumeist verschlafen durchs Leben. Aber wenn ich kann, wonach mir ist, wie etwa jetzt, wo ich eine Zwangspause einlegen muß, dann verschiebt sich jeder Tag um eine Stunde in der Uhrzeit. Mein Tag hat fünfundzwanzig Stunden, und nach fünfundzwanzig Normaltagen bin ich nur vierundzwanzig Mal schlafen gegangen. Ich habe also einen Tag weniger gehabt als alle anderen Menschen. Wenn ich also - sagen wir - fünfzig Jahre alt bin, bin ich in Tagen gerechnet nur achtundvierzig. So wäre das, wenn ich könnte wie ich wollte.

Aber wer kann das schon?! Die Gesellschaft - oder besser: die von mir internalisierte Instanz, genannt "Überich" - erlaubt mir solches nicht allzulange. Nicht solange man arbeitsfähig ist. Nach vierzig Jahren ist einem der Arbeitsrythmus schon dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass selbst Pensionisten, selbst wenn sie totkrank und bettlägrig sind, dass sie selbst am Tag ihres Todes noch um sechs Uhr in der Früh aufwachen, damit sie ihr Dahinscheiden nicht verpassen.

Übrigens glaube ich nicht, daß ein ehrlicher Mensch sagen kann, daß nach dem Tod nichts mehr kommt. Warum? Also:
Angenommen es gäbe das Nichts, was ja schon eine contradictio ist, weil es das "Nichts" gar nicht "geben" kann, das Nichts gibt es eben NICHT, ... , also mal angenommen, danach wäre nichts, es wäre für einen Menschen nicht wahrnehmbar. Wie auch? Stellen wir uns ein Fenster vor, durch das man hinüberblicken kann: man schaut durch und sieht - nichts. Was könnte man daraus schließen? Man könnte nicht schließen, daß es dort nichts gibt, sondern nur daß man nichts wahrgenommen hat. Und das kann viele Gründe haben, etwa das ich zu blöd bin, oder eine blinde Nuß, oder daß diese Welt eine so völlig anders geartete ist, daß man mit seinen Sinnen eben nichts wahrnehmen könnte. Übrigens könnte tatsächlich nichts sein, aber man könnte es niemals wahrnehmen oder nachweisen. Mit den Nachweisen verhält es sich genau gleich: jedes Experiment ist eine Frage. Man bringt etwas in eine Versuchsanordnung und läßt ihr genau zwei Möglichkeiten, eine bestätigende und eine verneinende. Ließe ich der Versuchsanordnung mehrere Antworten, womöglich sogar eine unbekannt hohe Anzahl an Antwortmöglichkeiten (ja, nein, vielleicht, ich weiß es nicht, geh doch scheißen, Alter!! u. v. m.) wie sollte ich eine Nichtantwort interpretieren - so wäre die Antwort des Nichts (wenn es dort drüben nichts gibt, kann es auch keine Antwort geben). Übte ich Druck aus, um eine Antwort zu erzwingen, bestimmt bekäme ich irgendeine – aber was besagte die schon. Die dem Nichts adäquate Antwort ist eben die Nichtantwort. Oder besser: keine Antwort. Das hieße warten und nichts zurückbekommen. Und nicht zu wissen, weshalb man nichts zurückbekommt, nicht zu wissen, ob man was falsch gemacht hat, nicht zu wissen, ob man noch warten soll, ob noch was kommt, oder ob diese rätselhafte Nichtantwort schon die passende ist, nämlich die Antwort aus dem Nichts heraus ...

Das heißt natürlich nicht, daß es drüben bestimmt etwas gibt. Damit meine ich nur, daß - gäbe es nichts - niemand das wissen könnte, sondern bestenfalls "vermuten", "annehmen" oder "glauben". Aber nicht wissen. Solange einer was sicher weiß, ist es nicht das Nichts, denn das kann man nicht sicher wissen. An das Nichts kann man nur glauben, wie an den Lieben (oder Bösen) Gott. Zu wissen glaubt nur der Gläubige. Der Wissbegierige muß angesichts der Ewigkeit zweifeln, etwas anders bleibt ihm nicht. Glaubt er zu wissen, hat er schon längst mit dem Glauben angefangen und es womöglich noch nicht mal gemerkt. So, und damit habe ich mir mal meine permanenten Zweifel schöngeredet.

Gezweifelt habe ich in meinem Leben wohl mehr als alles andere. Es ist sozusagen meine Hauptbeschäftigung. Mittlerweile nicht mal mehr das, es ist bereits zu einem Automatismus geworden, der knapp neben meinem Herzen im selben Takt schlägt und das wohl solange wie es der Taktgeber tun wird. Vielleicht sogar noch länger. Früher, also am Anfang, da habe ich mir noch die Mühe gegeben, meine Zweifel grammatikalisch erkennbar zu machen und brav den Konjunktiv verwendet. Das ist mir irgendwann zu mühsam geworden. Außerdem ist es ausgeartet: ich hätte mich praktisch nur noch in der Möglichkeitsform ausdrücken müssen: "Sollte dieses Semmerl tatsächlich existieren, könnte ich deren sechs bekommen, vorausgesetzt natürlich, daß auch Ihnen ein Dasein jenseits meiner reinen Vorstellung zukommt ...?" Nein, ich wollte nicht in die Klinik und chemisch eingestellt werden (ja, ich habe ein wenig Erfahrung damit!). Ich tu der Welt den Gefallen und rede wie sie im Affirmativ.

Manchmal diskutiere ich sogar und verteidige meinen Standpunkt - den ich doch gar nicht so meine. Aber ständig nichts zu meinen, oder das Gegenteil immer auch offen zu lassen, das ermüdet mich und die Menschen. Ich habe es also bleiben lassen. Manchmal wirft man mir sogar vor, ich würde stur bei meiner Meinung verharren. Das ist dann sozusagen mein Erfolgserlebnis. Da habe ich die Türen nach außen so fest verschlossen, daß niemand mehr merkt, daß überhaupt welche da sind. Eigentlich sind sie schon so fest versperrt, daß ich sie gar nicht mehr aufkriege. Selbst wenn ich es dann und wann mal möchte. Eng ist es. Aber es ist meine Wohnung. Die einzige, die ich habe. Manchmal, ja, manchmal ist es ein wenig einsam. Sogar ziemlich einsam. Aber ich kriege die verdammte Türe einfach nicht mehr auf. Hat aber auch Vorteile. Ich habe ja schon gesagt, daß ich ein ziemlich wehleidiger Mensch bin. Da schätze ich die Tür, die mittlerweile wohl schon mit der Wand verwachsen ist, als erheblichen Vorteil. Sie hat mir Kummer gebracht und hat mir Kummer erspart. Unterm Strich stehe ich wohl gleich da, wie die meisten anderen Menschen.

Außerdem ist das nun wohl etwas übertrieben, ja, manchmal geht die Tür schon auf. Aber nicht dann, wenn ich will. Den Schlüssel dazu habe ich definitv nicht. Der hängt irgendwo draußen, am Ast auf der Trauerweide gegenüber dem Eingang. Dann und wann kommt so ein vorwitziges Wesen, findet ihn, braucht nicht lange, um zu erkennen in welches Schloß er paßt, und steht plötzlich mitten in meinem Wohnzimmer. Dann fürchte ich mich. Oder ich freue ich mich. Oder beides, ständig zweifelnd was denn nun überwiegt. Ja, daran erinnere ich mich wohl noch lange.

Das war also nun mein erster Eintrag im Nachtbuch.

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