Pontonbrücke

Nein, Arbeit schändet mich nicht. Sie paßt einfach nicht zu mir. Wo immer ich meine Haut zu Arbeitsmarkte trage, bin ich ein Fremdkörper - egal wie zufrieden die Chefität ist. Reine routinemäßig achte ich darauf, alles richtig zu machen. Damit kann man Sympathien ernten. Über mein Innerstes kann ich mich allerdings nicht hinwegtäuschen. Das ist ganz woanders. Das ist auch gut so: wäre es bei der Arbeit, wie trübe sähe es dann in mir aus. Ein Wissen, dass gerade die Brücke zwischen zwei (noch) inkompatiblen Systemen bildet. Bis irgendjemand eine Maschine erfindet, welche auch diese Funktion übernimmt. Wir sind alle Platzhalter der Maschinen geworden. Am Ende verlieren wird diesen Wettlauf – irgend eine Maschine ist immer schneller, günstiger, zufriedener.

Ich bin also beim Help Desk einer großen Bank gelandet, und lebe sozusagen davon, dass die Systeme noch nicht alles können, immer wieder mal zusammenbrechen oder der menschliche Faktor sich Fehler leistet. Ich lebe davon, dass die Dinge nicht perfekt sind. Meine Aufgabe ist es, Perfektion in die sich auftuende Lücke zu gießen, auf das reibungslos geht, was ursprünglich als fehlerlos und rationell geplant war. Wiederum trete ich dort auf, wo das System einen Fehler macht. Ein Bescheid- und Besserwisser sozusagen. Ein IT-Oberlehrer. Oder ein Guru, zu dem die Mühseligen und Beladenen kommen, wenn sie schon alle Hoffnung haben fahren lassen. Ein armes Callcenterschwein eben, das von allem ein wenig und von nichts eine ganze Ahnung hat. Eine Pontonbrücke über jene Sümpfe, welche die Perfektion noch nicht trockengelegt hat. Alles nur vorläufig - mit der Hoffnung, dass die Vorläufigkeit lange genug dauert, um mich zu nähren.

Nein, diese Hoffnung haben meine jungen Kollegen, die ihr bestes geben, aber noch keine Ahnung haben, was die Jahre bringen werden. Ich selbst habe andere Pläne. Mein Engagement hat ein Ablaufdatum. Wiederum wälze ich ganz andere Pläne, als ich bei der Bewerbung verkündete. Da sagt man auf die Frage, weshalb man denn ausgerechnet hier anheuern wolle, dass man schon so viel davon gehört habe, dass man sich besonders für diesen Bewerbungstermin vorbereitet habe, obschon, natürlich habe ich noch andere Eisen im Feuer, aber dieser Termin hier, der ist nicht wie all die anderen, da hege ich schon ganz besondere Hoffungen, weil ich doch persönlich so gut hierherpasse, und eigentlich, also wenn ich so meinen Lebensweg betrachte, von der Wiege bis hierher, die vielen gescheiterten Hoffnungen, die Pläne, die nicht aufgingen, die Menschen, die kamen und mich verließen, die Tränen die ich vergoß, ..., ja all das wäre doch nur die Vorbereitung gewesen für das eigentliche Opus Magnum, das Ziel des Weges, der Stern in der Finsternis, dass ich also irgendwann hier in diesem beeindruckenden Callcenter bei dieser beeindruckenden Bank mit diesen beeindruckenden Kollegen unter diesem beeindruckenden Chef zur Ruhe kommen könne. Sowas sagt man, wenn man sich bewirbt, nicht so blumig, aber sinngemäß.

Und natürlich weiß ein auch nur halbwegs intelligenter Chef, dass man hier gerade mal auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner steht, aber er will hören und sehen, wie ich ihm jene Lügen erzählt, welche man nur erzählt, wenn man vorhat, die inserierte Mühsal auf sich zu nehmen. Wir belügen uns und wissen im Augenblick des Lügens um die Lüge, aber wehe man verweigert die Lüge, verweigert die Unterwerfung, welche sich darin zeigt, dass man sogar etwas moralisch verwerfliches zu tun bereit ist, nur um diesen Job zu kriegen. Wie bei der Mafia: zum Einstand muß man ein Verbrechen begehen, um zu zeigen, wie entschlossen man ist. Okay, eine geforderte Lüge zu erzählen, ist nicht mit einem Mord gleichzusetzen. Aber es ist der gleiche symbolische Kniefall unter jenen, der sich darin als Mächtiger widerspiegelt sieht: wenn ich bereit bin zu lügen, dann bin ich erst richtig motiviert.

Ich habe aber nicht nur die geforderte Lüge erzählt. Ich habe mit der Lüge etwas ganz anders verborgen. Ich habe sozusagen die "richtige" Lüge verschwiegen, jene, welche auf meine wahren Absichten hingewiesen hätte. Diese Lüge habe ich ihnen nicht gesagt. Die unausgesprochen Lüge ist ja überhaupt die schlimmste, weil sie nicht der Lüge überführt werden kann. Und ich verharre in meinem lügnerischen Schweigen. Bis Weihnachten werde ich noch verharren. Und dann werde ich die Lüge eröffnen, jene Lüge, welche eigentlich die Wahrheit ist. Welche der Wahrheit näher ist, als die offen ausgesprochene Sachlage.

Bis dahin sollte ich durchhalten, wovon ich mich selber allerdings noch nicht wirklich überzeugt habe. Mehr als einmal ertappte ich mich in Kündigungsphantasien: wie ich hineingehe, mich vor die Chefin hinstelle, in knappen Sätzen meinen Entschluß kund tue, auf dem Absatz kehrt mache und schon wieder draußen bin, noch bevor die Geschäfte aufsperren, nach Hause komme und ... tja, da enden meine Phantasien, da kommt nichts mehr. Also bin ich noch immer dort. Kündigungsphantasien sind sowas wie Selbsmordphantasien. Man begeht einen kleinen Suizid, man katapultiert sich hinaus aus der bürgerlichen Gesellschaft, ist wieder arbeitslos, verloren, auf der Außenseite, wo die Regeln nicht mehr ganz hingelangen können.

Aber wie beim Suizid gibt es auch nach der Kündigung keine Rückkehr mehr. Man muß sich erneut anstellen, so wie die Reinkarnationstherapeuten behaupten, dass man nach seinem Tod sich wieder beim göttlichen Arbeitsamt um einen neuen irdischen Job anstellen müsse. Inklusive Zumutbarkeitsbestimmungen, welche sich auf den letzten Job - oder das letzte Leben halt - beziehen.

Diesen kleinen Stellvertretersuizid habe ich mir eben für Weihnachten aufgespart. Dahinter habe ich Anspruchsberchtigungen berechnet, und sie sollten zu meinen Gunsten ausfallen, wenn mein Plan aufgeht. Bis dahin habe ich mir einen Anspruch erworben, von dem ich den Rest meines Lebens zehren kann. Das ist also die Wahrheit hinter all meinen Lügen. Ich will niemanden bei seinen Computerproblemen unterstützen, will niemandes Aktienkurs steigern, habe sehr wohl einen Stern, dem ich folge, aber es ist ganz ein anderer auf diesem sternenübersäten Firmament, ein kleiner, welcher nur für mich hell leuchtet, einer, den nur ich zum Fixstern erkoren habe.

Meine Pläne laufen quer zu jenen anderer Menschen. Daran dächten sie nie, weswegen mir keiner auf die Schliche kommt. Kommen kann. Manchmal denke ich, ich könnte die Wahrheit offen aussprechen, es schadete mir gar nicht, weil es keiner verstünde. Eine Lüge ist nur dann ein solche, wenn sie im Kern wahrheitsfähig ist. Viele Menschen lügen ja gar nicht, um eine Wahrheit zu verschweigen, viel eher verschweigen sie die Tatsache, dass sie etwas treibt, das sie selber nicht verstehen. Bevor man andere belügt, hat man sich vielleicht schon selber belogen. So ist das mit der Lüge und der Wahrheit, wie überhaupt mit allen Gegensätzen, ganz unten berühren sie sich, ganz unten sind sie vom gleichen Stamm, wie zwei Bäume, die sich tief unten von ein und den selben Wurzeln nähren. Die Lüge ist die verschwiegene Wahrheit, wie sich die Wahrheit in der offen ausgesprochenen Lüge findet. Wer nicht lügen kann, kann auch nicht die Wahrheit sagen. Wer die Wahrheit nicht kennt, kann sie gar nicht leugnen.

Wer also die letztendliche Wahrheit sucht, muss sich daneben mit der letztendlichen Lüge vertraut machen, sonst wird er die ganze Wahrheit, welche eigentlich schon jenseits von Lüge und Wahrheit ist, gar nicht fassen können.

Und ein Großer Lügner ist der Großen Wahrheit wohl näher, als er selbst weiß.

Um nicht zu sagen, dass wir mehr lügen sollten.

Aber dann schon richtig.

essay
Fussball
Gesellschaft
Nachtbuch
Österreich
Politik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren