Sowohl Entweder als auch Oder
Wieder eine Nacht. Nicht die erste, nicht die letzte. Eine von vielen. Oder nur eine einzige immer wieder kehrende. Wir sehen in der Nacht die Abwesenheit von Tag, oder genauer: die Abwesenheit von Sonne. Die Nacht wird als das gesehen, was sie nicht ist, nämlich Tag.
Ein Nachtbuch ist in diesem Sinne ein Buch über das Abwesende. Das Abwesende müsste mich nicht besonders beschäftigen. Was habe ich denn davon, dass es nicht da ist. Aber es lässt mich nicht los. Es ist irgendeine Art von Bindung da. Es durchzieht meine Träume. Der Nachtwachende träumt mit offenen Augen. Das Bewusstsein wacht, und über die Augen ziehen sich Traumschleier. Da mag das Abwesende manchmal vor einem stehen. Dasjenige, das eigentlich einen Tag hat, und nicht der Nacht bedürfte.
Das Abwesende ist gerade durch seine Abwesenheit ständig anwesend. Wäre es ein Ding, so könnte es kommen und gehen. Aber eine Vorstellung bedarf weder des Raumes, noch der Zeit. Sie hat keine Ausdehnung und kann so überall erscheinen. Sie ist zeitlos, und als zeitloses ist sie ewig.
Die Ewigkeit ist sowas wie eine Nicht-Zeit. Das Abwesende war mal ein Ding, und als Ding ist es gegangen, aber als Vorstellung hat es sich eingenistet, und man wird es nicht mehr los. Ein Ding könnte ich zerschlagen, verbrennen, vierteilen, in Säure auflösen.
Aber eine Vorstellung ... gegen die kommt man nicht an.
So wird die Nacht zu einer Art von Tag. Ein Tag, der von einer Schwarzen Sonne überschattet wird. Wo die Strahlen der Schwarzen Sonne hinfallen, wird es dunkel – nur in ihrem Schatten bleibt ein wenig Licht, ein düsteres, verzweifeltes Irrlicht, dem man folgen möchte, dem man vertrauen möchte, weil unter der Schwarzen Sonne so wenig vertrautes ist.
Einst dachte ich, man könnte sich der Welt über das Entweder-Oder annähern, bis man sie am Ende gänzlich begriffen hätte. Aber die Welt drängt sich mir stets als ein Sowohl-Als-Auch auf. Und was ich als endgültig widerlegt glaubte, kommt als Abwesendes wieder zu mir zurück und blickt mich vorwurfsvoll an, weil ich es verstoßen habe. Das Verstoßene stirbt nicht, es entweicht in die Welt der Schwarzen Sonne, wo es irrlichternd verzweifelte Wanderer in die Irre treibt, die ebenfalls verstoßen sind. Deswegen finden die Unruhigen keinen Schlaf und durchwachen die Nächte. Die Sesshaften sind zurecht misstrauisch, wenn noch immer Licht durchs Fenster scheint, weil da einer sich nicht zur Ruhe legen kann. Wer kein Ruhekissen findet, den drückt wohl das Gewissen – wie das Sprichwort schon meint – und wenn es sich reimt, ist es richtig. An der Wahrheit jedenfalls näher dran, als das einbeinige Entweder.
Wer sich gegen das Oder entscheidet, hat es in das Reich der Schatten geschickt. Aus dem Oder wird ein Untoter, ein Wiedergänger, ein Vampir, ein Kain, der aus dem Schatten immer wieder seinen Bruder zu erschlagen sucht, weil Gott diesen mehr liebt, als den Schattenmann. Und doch hat Gott diesen Mörder mit einem schützenden Mal versehen, damit ihm keiner zuleide täte. Was liegt ihm an diesem Brudermörder? Ist er denn nicht eindeutig einer der schwersten Taten überführt? Kann mit Kain nicht jeder machen, was er will, weil man mit Schuldigen immer machen kann was man will, ohne je dafür büßen zu müssen?
Wie schön, einen Schuldigen gefunden zu haben, wenn man ihn schwarz auf weiß der Untat beschuldigen darf. Und erst das Strafen verhängen! Wie strahlen die Rechtschaffenen in ihrem Heiligenschein, wenn gerechter Zorn schließlich Betätigung findet. Auf Untat folgt Strafe, sozusagen als eherne Konsequenz – mal weil es der Wille Gottes ist, mal weil die Ordnung nicht untergraben werden darf, mal sozusagen als Therapie für die Hinterbliebenen.
Vor jedem Krieg wird der Gegner zuerst der Untat beschuldigt. Gerne beschuldigt man ihn der Untat an Kindern. Ja, Kinder müssen immer dafür herhalten, denn nichts empört mehr, als wenn unschuldigen Kindern etwas Unrechtes geschieht. Passiert irgendwo eine Unglück muss aus der Zahl der Toten extra noch die Zahl der Kinder herausgestellt werden. Als ob tote Erwachsene weniger leiden. Tote Männer oder tote Soldaten oder tote Mörder. Den Juden, den Deutschen, den Irakis, neuerdings sogar den Rauchern wird der Mord an Kindern angehängt. Mittlerweile werde ich immer dann hellhörig, wenn der Schutz der Kinder als Grund für dieses und jenes herhalten muss.
Meist ist das die Vorbereitung für den Großen Feldzug – hinter dem Getrappel der armen Kinder höre ich schon die Dicke Berta anrollen.
"Make my day, punk", Dirty Harrys berühmter Satz, in dem das Rauhbein den ohnehin schon überführten Räuber einladet, ihm doch einen guten Grund zu geben, dem Delinquenten auch noch eins auf den Pelz brennen zu dürfen.
Warum hat der Regelfanatiker Jahwe Kain schließlich doch mit einem schützenden Mal versehen? Doch ein schlechtes Gewissen gekriegt, weil er Kain vernachlässigt hat? Oder weil der Gute was falsch verstanden hat?
Ich behaupte ja, dass Gott schließlich immer kriegt, was er will. Auch das Unanständige – aber das gibt er nie zu, diese Drecksarbeit überlässt er lieber anderen. Hiob hat an Gott geglaubt – aber Gott nicht an Hiob, sonst hätte er in seiner Allwissenheit wohl auf die blöden Tests verzichten können. Und Gott hat auch deswegen Kains Opfer abgelehnt, weil er wissen wollte, wie weit das schlichte Gemüt denn gehen würde, nur um seiner göttlichen Liebe teilhaftig zu werden. Gott wollte, dass Kain ihm ein besonderes Opfer bringt, und Kain hat nicht Rückgrat genug gehabt, dem Alten den Mittelfinger zu zeigen. Also hat er ihm sein teuerstes geopfert: seinen Bruder. Gott hat gekriegt, was er wollte, und konnte trotzdem noch seinen Heiligenschein aufbehalten und mit dem Finger auf den Bösen zeigen.
Aber das würde der Alte doch nie zugeben. Er ist ein Gott des Lichts. Die Finsternis und ihre Dämonen sind ihm einfach so von der Töpferscheibe gerutscht – hoppla, weg mit dir, dich hab ich nicht erschaffen.
Bin ich vom Thema abgekommen? Beim Spiel der letzten großen Gegensätze kann man wohl nie vom Thema abkommen. Sie sind uns immer Thema. Nach dem Fall der Mauer glaubten wir tatsächlich, der große globale Gegensatz sei endgültig aufgehoben – das Ende der Geschichte. Osama bin Laden war dann doch anderer Ansicht. Zur Zufriedenheit der amerikanischen Waffenschmiede übrigens, die sonst wirklich noch auf Pflugscharen hätten umsatteln müssen.
Das Spiel der Gegensätze wird nie aufhören, vielleicht darf es das auch gar nicht, vielleicht ist es das, was unsere Welt im Innersten zusammenhält. Zur Gravitation bedarf es immer auch einer entgegengesetzten Fliehkraft, damit die Planeten nicht aufeinanderkrachen. Damit Materie nicht zum Schwarzen Loch zusammenfällt, muss es neben der Kraft, die sie zusammenhält, wohl auch eine geben, die sie auseinanderdrückt. Jedem Jesus ein Judas, jedem John F. ein Lee Harvey, nur Hitler hat sich selber umbringen müssen – was wohl nicht für seine Weltgeltung spricht. Das Böse siegt so wenig, wie das Gute. Wenn das Gute siegt, hat sich in seinen Reihen schon längst das Böse eingeschlichen und feiert mit ihm – nicht weil es besiegt wurde, sondern weil man die Feste nun mal feiern soll, wie sie fallen.
Die spannende Frage: wo stehe ich in diesem Spiel? Habe ich da eine Funktion, oder bin ich nur Schmierstoff für die Geschichte? Wäre wohl etwas anmassend, in diesem Großen Spiel auch noch eine Rolle spielen zu wollen. Aber Schmierstoff – dieser Job passt mir noch weniger. Gibt es überhaupt noch ein drittes zwischen den beiden Großen Gegensätzen? Kann man sich überhaupt weder für noch gegen etwas entscheiden? Es gab Zeiten, wo viele sich am liebsten gar nicht entschieden hätten. Das hat dann die Geschichte für sie gemacht – das Pech der Frühen Geburt, sozusagen. Heutzutage geht das ja etwas leichter. Doch wenn das Gesetz der Gegensätze überall gelten soll, dann auch hier und jetzt. Ja, ein wenig Gestaltungsrahmen habe ich schon. Ich kann mich immer gerade auf die Seite stellen, die gerade unterrepräsentiert ist. Wenn alle von Leistung reden, kann ich den Faulpelz raushängen lassen. Wenn alle sich vor dem frühen Tod durch Passivrauchen fürchten, zünde ich mir eine an. Und wenn alle schlafen, bleibe ich wach. Na ja, das sind eigentlich nur Kleinigkeiten, auf die ich mir nicht allzuviel einbilden muss. Ich habe mich ein Zeit lang in den Wiener Anarchistenzirkeln herumgetrieben und habe es geschafft, auch zu diesen Unterrepräsentierten, diesen Gegensätzlichen – oder Alternativen, wie sie sich nannten – noch in Gegensatz zu geraten. Eigentlich logisch, warum soll das Spiel der Gegensätze ausgerechnet bei denen Halt machen. Ja, wenn ich mich mal bewege, habe ich schon ein gewisses Talent, mich dort hinein zu begeben, wo man eigentlich niemanden drinnen stehen haben möchte. Wo immer ich hingehe, die Gegensätze sind schon vor mir da. Gegensätze führen zu Kampf und Reibung, das hält meine zerbrechliche Seele außerdem nicht all zulange aus. Und am Ende, wenn mich die Gegensätzlichkeit von allem und jedem getrennt hat, dann stehe ich alleine da. Und falle mangels Alternativen in Gegensatz zu mir selber.
Oder ich sitze alleine da, in der Nacht, vor meinem Rechner und schreibe seltsame selbstverständliche Dinge in eine Buch, das keiner liest. Wenn mich alle Gegensätze vor sich hergetrieben und mich schlussendlich ausgespuckt haben, dann bleibe ich als ein mir fremdes ich übrig.
Meine Rolle im Großen Weltgeschehen: ein Fremder in meiner Haut.
Sowohl Entweder als auch Oder.
Ein Nachtbuch ist in diesem Sinne ein Buch über das Abwesende. Das Abwesende müsste mich nicht besonders beschäftigen. Was habe ich denn davon, dass es nicht da ist. Aber es lässt mich nicht los. Es ist irgendeine Art von Bindung da. Es durchzieht meine Träume. Der Nachtwachende träumt mit offenen Augen. Das Bewusstsein wacht, und über die Augen ziehen sich Traumschleier. Da mag das Abwesende manchmal vor einem stehen. Dasjenige, das eigentlich einen Tag hat, und nicht der Nacht bedürfte.
Das Abwesende ist gerade durch seine Abwesenheit ständig anwesend. Wäre es ein Ding, so könnte es kommen und gehen. Aber eine Vorstellung bedarf weder des Raumes, noch der Zeit. Sie hat keine Ausdehnung und kann so überall erscheinen. Sie ist zeitlos, und als zeitloses ist sie ewig.
Die Ewigkeit ist sowas wie eine Nicht-Zeit. Das Abwesende war mal ein Ding, und als Ding ist es gegangen, aber als Vorstellung hat es sich eingenistet, und man wird es nicht mehr los. Ein Ding könnte ich zerschlagen, verbrennen, vierteilen, in Säure auflösen.
Aber eine Vorstellung ... gegen die kommt man nicht an.
So wird die Nacht zu einer Art von Tag. Ein Tag, der von einer Schwarzen Sonne überschattet wird. Wo die Strahlen der Schwarzen Sonne hinfallen, wird es dunkel – nur in ihrem Schatten bleibt ein wenig Licht, ein düsteres, verzweifeltes Irrlicht, dem man folgen möchte, dem man vertrauen möchte, weil unter der Schwarzen Sonne so wenig vertrautes ist.
Einst dachte ich, man könnte sich der Welt über das Entweder-Oder annähern, bis man sie am Ende gänzlich begriffen hätte. Aber die Welt drängt sich mir stets als ein Sowohl-Als-Auch auf. Und was ich als endgültig widerlegt glaubte, kommt als Abwesendes wieder zu mir zurück und blickt mich vorwurfsvoll an, weil ich es verstoßen habe. Das Verstoßene stirbt nicht, es entweicht in die Welt der Schwarzen Sonne, wo es irrlichternd verzweifelte Wanderer in die Irre treibt, die ebenfalls verstoßen sind. Deswegen finden die Unruhigen keinen Schlaf und durchwachen die Nächte. Die Sesshaften sind zurecht misstrauisch, wenn noch immer Licht durchs Fenster scheint, weil da einer sich nicht zur Ruhe legen kann. Wer kein Ruhekissen findet, den drückt wohl das Gewissen – wie das Sprichwort schon meint – und wenn es sich reimt, ist es richtig. An der Wahrheit jedenfalls näher dran, als das einbeinige Entweder.
Wer sich gegen das Oder entscheidet, hat es in das Reich der Schatten geschickt. Aus dem Oder wird ein Untoter, ein Wiedergänger, ein Vampir, ein Kain, der aus dem Schatten immer wieder seinen Bruder zu erschlagen sucht, weil Gott diesen mehr liebt, als den Schattenmann. Und doch hat Gott diesen Mörder mit einem schützenden Mal versehen, damit ihm keiner zuleide täte. Was liegt ihm an diesem Brudermörder? Ist er denn nicht eindeutig einer der schwersten Taten überführt? Kann mit Kain nicht jeder machen, was er will, weil man mit Schuldigen immer machen kann was man will, ohne je dafür büßen zu müssen?
Wie schön, einen Schuldigen gefunden zu haben, wenn man ihn schwarz auf weiß der Untat beschuldigen darf. Und erst das Strafen verhängen! Wie strahlen die Rechtschaffenen in ihrem Heiligenschein, wenn gerechter Zorn schließlich Betätigung findet. Auf Untat folgt Strafe, sozusagen als eherne Konsequenz – mal weil es der Wille Gottes ist, mal weil die Ordnung nicht untergraben werden darf, mal sozusagen als Therapie für die Hinterbliebenen.
Vor jedem Krieg wird der Gegner zuerst der Untat beschuldigt. Gerne beschuldigt man ihn der Untat an Kindern. Ja, Kinder müssen immer dafür herhalten, denn nichts empört mehr, als wenn unschuldigen Kindern etwas Unrechtes geschieht. Passiert irgendwo eine Unglück muss aus der Zahl der Toten extra noch die Zahl der Kinder herausgestellt werden. Als ob tote Erwachsene weniger leiden. Tote Männer oder tote Soldaten oder tote Mörder. Den Juden, den Deutschen, den Irakis, neuerdings sogar den Rauchern wird der Mord an Kindern angehängt. Mittlerweile werde ich immer dann hellhörig, wenn der Schutz der Kinder als Grund für dieses und jenes herhalten muss.
Meist ist das die Vorbereitung für den Großen Feldzug – hinter dem Getrappel der armen Kinder höre ich schon die Dicke Berta anrollen.
"Make my day, punk", Dirty Harrys berühmter Satz, in dem das Rauhbein den ohnehin schon überführten Räuber einladet, ihm doch einen guten Grund zu geben, dem Delinquenten auch noch eins auf den Pelz brennen zu dürfen.
Warum hat der Regelfanatiker Jahwe Kain schließlich doch mit einem schützenden Mal versehen? Doch ein schlechtes Gewissen gekriegt, weil er Kain vernachlässigt hat? Oder weil der Gute was falsch verstanden hat?
Ich behaupte ja, dass Gott schließlich immer kriegt, was er will. Auch das Unanständige – aber das gibt er nie zu, diese Drecksarbeit überlässt er lieber anderen. Hiob hat an Gott geglaubt – aber Gott nicht an Hiob, sonst hätte er in seiner Allwissenheit wohl auf die blöden Tests verzichten können. Und Gott hat auch deswegen Kains Opfer abgelehnt, weil er wissen wollte, wie weit das schlichte Gemüt denn gehen würde, nur um seiner göttlichen Liebe teilhaftig zu werden. Gott wollte, dass Kain ihm ein besonderes Opfer bringt, und Kain hat nicht Rückgrat genug gehabt, dem Alten den Mittelfinger zu zeigen. Also hat er ihm sein teuerstes geopfert: seinen Bruder. Gott hat gekriegt, was er wollte, und konnte trotzdem noch seinen Heiligenschein aufbehalten und mit dem Finger auf den Bösen zeigen.
Aber das würde der Alte doch nie zugeben. Er ist ein Gott des Lichts. Die Finsternis und ihre Dämonen sind ihm einfach so von der Töpferscheibe gerutscht – hoppla, weg mit dir, dich hab ich nicht erschaffen.
Bin ich vom Thema abgekommen? Beim Spiel der letzten großen Gegensätze kann man wohl nie vom Thema abkommen. Sie sind uns immer Thema. Nach dem Fall der Mauer glaubten wir tatsächlich, der große globale Gegensatz sei endgültig aufgehoben – das Ende der Geschichte. Osama bin Laden war dann doch anderer Ansicht. Zur Zufriedenheit der amerikanischen Waffenschmiede übrigens, die sonst wirklich noch auf Pflugscharen hätten umsatteln müssen.
Das Spiel der Gegensätze wird nie aufhören, vielleicht darf es das auch gar nicht, vielleicht ist es das, was unsere Welt im Innersten zusammenhält. Zur Gravitation bedarf es immer auch einer entgegengesetzten Fliehkraft, damit die Planeten nicht aufeinanderkrachen. Damit Materie nicht zum Schwarzen Loch zusammenfällt, muss es neben der Kraft, die sie zusammenhält, wohl auch eine geben, die sie auseinanderdrückt. Jedem Jesus ein Judas, jedem John F. ein Lee Harvey, nur Hitler hat sich selber umbringen müssen – was wohl nicht für seine Weltgeltung spricht. Das Böse siegt so wenig, wie das Gute. Wenn das Gute siegt, hat sich in seinen Reihen schon längst das Böse eingeschlichen und feiert mit ihm – nicht weil es besiegt wurde, sondern weil man die Feste nun mal feiern soll, wie sie fallen.
Die spannende Frage: wo stehe ich in diesem Spiel? Habe ich da eine Funktion, oder bin ich nur Schmierstoff für die Geschichte? Wäre wohl etwas anmassend, in diesem Großen Spiel auch noch eine Rolle spielen zu wollen. Aber Schmierstoff – dieser Job passt mir noch weniger. Gibt es überhaupt noch ein drittes zwischen den beiden Großen Gegensätzen? Kann man sich überhaupt weder für noch gegen etwas entscheiden? Es gab Zeiten, wo viele sich am liebsten gar nicht entschieden hätten. Das hat dann die Geschichte für sie gemacht – das Pech der Frühen Geburt, sozusagen. Heutzutage geht das ja etwas leichter. Doch wenn das Gesetz der Gegensätze überall gelten soll, dann auch hier und jetzt. Ja, ein wenig Gestaltungsrahmen habe ich schon. Ich kann mich immer gerade auf die Seite stellen, die gerade unterrepräsentiert ist. Wenn alle von Leistung reden, kann ich den Faulpelz raushängen lassen. Wenn alle sich vor dem frühen Tod durch Passivrauchen fürchten, zünde ich mir eine an. Und wenn alle schlafen, bleibe ich wach. Na ja, das sind eigentlich nur Kleinigkeiten, auf die ich mir nicht allzuviel einbilden muss. Ich habe mich ein Zeit lang in den Wiener Anarchistenzirkeln herumgetrieben und habe es geschafft, auch zu diesen Unterrepräsentierten, diesen Gegensätzlichen – oder Alternativen, wie sie sich nannten – noch in Gegensatz zu geraten. Eigentlich logisch, warum soll das Spiel der Gegensätze ausgerechnet bei denen Halt machen. Ja, wenn ich mich mal bewege, habe ich schon ein gewisses Talent, mich dort hinein zu begeben, wo man eigentlich niemanden drinnen stehen haben möchte. Wo immer ich hingehe, die Gegensätze sind schon vor mir da. Gegensätze führen zu Kampf und Reibung, das hält meine zerbrechliche Seele außerdem nicht all zulange aus. Und am Ende, wenn mich die Gegensätzlichkeit von allem und jedem getrennt hat, dann stehe ich alleine da. Und falle mangels Alternativen in Gegensatz zu mir selber.
Oder ich sitze alleine da, in der Nacht, vor meinem Rechner und schreibe seltsame selbstverständliche Dinge in eine Buch, das keiner liest. Wenn mich alle Gegensätze vor sich hergetrieben und mich schlussendlich ausgespuckt haben, dann bleibe ich als ein mir fremdes ich übrig.
Meine Rolle im Großen Weltgeschehen: ein Fremder in meiner Haut.
Sowohl Entweder als auch Oder.
messingherz - 4. Nov, 03:44