Spitzbergen
Die Tage ziehen dahin, wie hochfliegende Zugvögel, die herbstens gen Süden ziehen. Ich blicke ihnen nach, und denke mir, dass ich kein Zugvogel bin. Gut so, ich hätte jetzt keine Energie für so eine lange Reise.
Das Leben, so sieht es der romantische Blick, das Leben könnte eine Reise sein. Die meisten Menschen reisen gerne. Es soll den Horizont erweitern, riecht nach Spannung und Abenteuer. Mein Leben ist nicht so. Eher ist es wie ein ständiger Herbst, der einem Sommer nachtrauert und eine zukünftigen Winter fürchtet. Obwohl ich nicht sagen könnte, wie der Sommer denn ausgesehen hätte. Und den Winter fürchte ich nicht. Nein, es bleibt ein Herbst ohne Anfang und Ende.
So ziehen die Zugvögel gegen Süden und weiter gegen Süden und immer weiter, bis sie auf der anderen Seite der Kugel wieder hervorkommen. Sie können nicht aufhören gegen Süden zu fliegen, schließlich ist andauernd Herbst. Und da müssen die Zugvögel fliegen. Angetrieben von einem Winter, der nie kommt, jagen sie um die Erdkugel, wie der Hamster im Rad. Ein sinnlose Bewegung in einem geschlossenen System, das durch die Geschlossenheit erst zur Sinnlosigkeit wird.
Deshalb bin ich wieder einmal stehen geblieben. Nicht das erste Mal. Nicht aus Erkenntnis, eher aus Erschöpfung. Beim ersten Mal war die Erschöpfung gewaltig, sonst hätte ich nicht den Mut zum Stehenbleiben gehabt. Es ist nichts passiert, außer daß ich nach einiger Zeit – nachdem ich wieder bei Kräften war – die Reise wieder aufnahm. Seither ist meine diesbezügliche Frustrattionstoleranz immer geringer geworden. Mittlerweile warte ich schon auf den Anlaß, welcher mir Grund zum Stehenbleiben sein könnte. Mitunter verdächtige ich mich selber, dass ich den Anlaß unbewußt provoziere, damit ich mir wieder eine Pause gönnen kann.
Bei der ersten Umrundung unseres Planeten dachte ich noch, das es nun gleich kommt, war ich noch zuversichtlich. Bei der zweiten meinte ich, dass es doch immerhin was zu sehen gibt. Bei der dritten tröstete ich mich, dass es eben mein Los sei. Bei der vierten war ich nur noch schlechtgelaunt. Die fünfte kriegte ich gar nicht mehr zu Ende. Ich unterbrach sie das erste Mal in Nordafrika, weil es dort recht warm war.
Mittlerweile mache ich Pause im kalten und stürmischen Spitzbergen. Es ist doch wirklich schon egal. Nicht mal die Oasen Nordafrikas reizen mich mehr. Mich ekelt das satte Grün in der trockenen Wüste und die ergriffenen Mienen jener, die sich schon dem Tod nahe durch Verdursten wähnten und im Auffinden der Oase ein Bestätigung sahen, an den richtigen Gott zu glauben. Denn: war es nicht eine höhere Fügung, dass sie knapp vor dem Ende auf dies wirtliche Eiland im Sandmeer stießen? Nein, es war Zufall, wie die vielen Skelette im weiteren Umkreis belegen, aber davon wollen sie jetzt nichts hören. Jetzt liegen sie gerade im matschigen Sand und preisen irgendeinen Schöpfer.
Deswegen Spitzbergen. Wen dort seine Kraft verläßt, den verläßt auch der Glaube. Wer dort länger als eine Woche überlebt, hat ohnehin einen Sprung in der Platte. So wie ich eben. Zumindest muß ich diesen Schluß ziehen. Aber eigentlich, wenn ich so in mich hineinblicke, halte ich mich für ziemlich normal. Für ziemlich Durchschnitt. Jedenfalls soweit es meinen Ausgangspunkt betraf. Am Anfang war ich wirklich so, wie alle. Und wenn ich nun nicht mehr mehrheitsfähig bin, so liegt das an meinem Lebenswandel. Ich muß es also auf mich nehmen, wenn ich nun auf der spitzbergischen Außenseite zu liegen komme.
Ich will die Sonderlinge in Spitzbergen nun keineswegs indirekt als heroisch Gescheiterte oder einsame Genies darstellen. Nein, mit denen stimmt wirklich was nicht. Die können keiner geregelten Arbeit nachgehen, schaffen es nur schwer oder gar nicht ihre Rechnungen zu bezahlen, und wenn ich sie frage, was „autochton“ bedeutet, wissen sie es genau so wenig, wie die Normalos. Außerdem neigen sie zu Verschwörungstheorien. Die Finanzkrise, der Irakkrieg, die Nazis und die Juden, alles sollte ihrer Meinung nach nochmals hinterfragt werden. Am liebsten wären ihnen irgendwelche finstere Zirkel. Freimaurer, zum Beispiel. Wer gegen Freimaurer ist, ist noch kein Antisemit, kein Antikapitalist, kein Antikommunist, keine Antifaschist. Wer gegen Freimaurer ist, hat noch keine Konsens verlassen. Unter Freimaurern kann ich mir böse Individuen vorstellen. Da bin ich noch kein schlechter Mensch.
Und ich? Ich kann keine Verschwörung sehen. Ich hätte gerne eine. Gäbe es einen Zirkel, der alles steuern kann, so gäbe es offensichtlich ein weitreichende, weltumspannende Dynamik. Das hieße, dass es eine Mitte geben könnte, wo alle Fäden zusammenlaufen. Es gäbe auch einen tieferen Sinn, nämlich das, was die Verschwörer unter Ausnutzung ihres genialen Netzes zu erreichen versuchen. Die Weltmacht zum Beispiel. Wenn man die hat, was tut man dann damit? Den Hunger aus der Welt schaffen? Oder statt fünfzig Milliarden Dollar hundertfünfzig der selben sein eigen nennen? Was wäre dann? Was tun? Okay, eine größere Wohnung hätte ich schon gerne, aber dafür reichen dreihundertfünfzigtausend Euro – wenn ich mal, sagen wir zehn Millionen hätte, wäre mir jede weitere Verschwörung zu viel, wäre sie wie das Betreten einer neuen Runde auf der Flucht vor dem Winter, der ohnehin nie kommt.
Also bleibe ich doch gleich auf Spitzbergen unter den Sonderlingen. Vielleicht entdeckt ja der eine oder andere eine Verschwörung, welche wirklich stimmt. Da ginge ich dann hin, in dieses Zentrum der Welt. Meinetwegen als Portier bei einem Nebeneingang dieses Palastes oder dieser Festung. Und dann sähe ich schon, wie ich weiterkäme. Diese Suchenden sind mir immer noch lieber, als die schon gefunden Habenden in der Oase mit ihrem blöden, selbstzufriedenen Grinsen.
Also Spitzbergen. Wenn ich denn ein Zugvogel wäre. Da ich keiner bin, bleibe ich stehen, wo ich gerade stehe.
Beim ersten Mal dachte ich, nun müßte etwas passieren, schließlich war es unerhört. Und heute noch verstehen die Menschen nicht, dass nichts passiert, wenn ich mich einfach abkopple. Am ehesten ähnle ich vielleicht jenem aus dem Platonischen Höhlengleichnis, der die Höhle verläßt. Allerdings ist draußen nicht die Wirklichkeit. Draußen ist einfach eine andere Höhle, und außerhalb derer eine neue und so fort. Lauter Höhlen. Da braucht man weder Innovation noch Mut. Man muß einfach nur hingehen und nachschauen.
Und die Enttäuschung ertragen.
Das ist überhaupt das schwierigste. Wer gerade noch die Oase erreicht hat, der kann nicht sagen, dass es nur ein Zufall war. Unmöglich. Den Rest seines Lebens verließe ihn die Panik nicht. Denn so einen Zufall kriegt man nur einmal. Nein, es läßt sich leichter leben, wenn man einen Schutz von oben vermutet. Der kann ja wieder kommen, wenn man jeden Tag brav seine Suppe auslöffelt.
Niemand kann die Enttäuschung ertragen, dass in der Mitte kein Sinn steht, sondern nur ich mit meiner Sehnsucht nach einem Sinn. Wer diese Sehnsucht als solche gesehen hat, und wer weiß, dass aus einer Sehnsucht auf keine tatsächliche Existenz des Ersehnten geschlossen werden kann, der muß eine riesige Last an Enttäuschungen ertragen.
Die Verschwörungstheoretiker aus Spitzbergen haben wohl ins Antlitz dieser grauenvollen Leere geblickt und sie nicht ertragen. Seither suchen sie eine neue Mitte im Abstrusen.
Und ich stehe immer noch in der Kälte.
Und friere.
Das Leben, so sieht es der romantische Blick, das Leben könnte eine Reise sein. Die meisten Menschen reisen gerne. Es soll den Horizont erweitern, riecht nach Spannung und Abenteuer. Mein Leben ist nicht so. Eher ist es wie ein ständiger Herbst, der einem Sommer nachtrauert und eine zukünftigen Winter fürchtet. Obwohl ich nicht sagen könnte, wie der Sommer denn ausgesehen hätte. Und den Winter fürchte ich nicht. Nein, es bleibt ein Herbst ohne Anfang und Ende.
So ziehen die Zugvögel gegen Süden und weiter gegen Süden und immer weiter, bis sie auf der anderen Seite der Kugel wieder hervorkommen. Sie können nicht aufhören gegen Süden zu fliegen, schließlich ist andauernd Herbst. Und da müssen die Zugvögel fliegen. Angetrieben von einem Winter, der nie kommt, jagen sie um die Erdkugel, wie der Hamster im Rad. Ein sinnlose Bewegung in einem geschlossenen System, das durch die Geschlossenheit erst zur Sinnlosigkeit wird.
Deshalb bin ich wieder einmal stehen geblieben. Nicht das erste Mal. Nicht aus Erkenntnis, eher aus Erschöpfung. Beim ersten Mal war die Erschöpfung gewaltig, sonst hätte ich nicht den Mut zum Stehenbleiben gehabt. Es ist nichts passiert, außer daß ich nach einiger Zeit – nachdem ich wieder bei Kräften war – die Reise wieder aufnahm. Seither ist meine diesbezügliche Frustrattionstoleranz immer geringer geworden. Mittlerweile warte ich schon auf den Anlaß, welcher mir Grund zum Stehenbleiben sein könnte. Mitunter verdächtige ich mich selber, dass ich den Anlaß unbewußt provoziere, damit ich mir wieder eine Pause gönnen kann.
Bei der ersten Umrundung unseres Planeten dachte ich noch, das es nun gleich kommt, war ich noch zuversichtlich. Bei der zweiten meinte ich, dass es doch immerhin was zu sehen gibt. Bei der dritten tröstete ich mich, dass es eben mein Los sei. Bei der vierten war ich nur noch schlechtgelaunt. Die fünfte kriegte ich gar nicht mehr zu Ende. Ich unterbrach sie das erste Mal in Nordafrika, weil es dort recht warm war.
Mittlerweile mache ich Pause im kalten und stürmischen Spitzbergen. Es ist doch wirklich schon egal. Nicht mal die Oasen Nordafrikas reizen mich mehr. Mich ekelt das satte Grün in der trockenen Wüste und die ergriffenen Mienen jener, die sich schon dem Tod nahe durch Verdursten wähnten und im Auffinden der Oase ein Bestätigung sahen, an den richtigen Gott zu glauben. Denn: war es nicht eine höhere Fügung, dass sie knapp vor dem Ende auf dies wirtliche Eiland im Sandmeer stießen? Nein, es war Zufall, wie die vielen Skelette im weiteren Umkreis belegen, aber davon wollen sie jetzt nichts hören. Jetzt liegen sie gerade im matschigen Sand und preisen irgendeinen Schöpfer.
Deswegen Spitzbergen. Wen dort seine Kraft verläßt, den verläßt auch der Glaube. Wer dort länger als eine Woche überlebt, hat ohnehin einen Sprung in der Platte. So wie ich eben. Zumindest muß ich diesen Schluß ziehen. Aber eigentlich, wenn ich so in mich hineinblicke, halte ich mich für ziemlich normal. Für ziemlich Durchschnitt. Jedenfalls soweit es meinen Ausgangspunkt betraf. Am Anfang war ich wirklich so, wie alle. Und wenn ich nun nicht mehr mehrheitsfähig bin, so liegt das an meinem Lebenswandel. Ich muß es also auf mich nehmen, wenn ich nun auf der spitzbergischen Außenseite zu liegen komme.
Ich will die Sonderlinge in Spitzbergen nun keineswegs indirekt als heroisch Gescheiterte oder einsame Genies darstellen. Nein, mit denen stimmt wirklich was nicht. Die können keiner geregelten Arbeit nachgehen, schaffen es nur schwer oder gar nicht ihre Rechnungen zu bezahlen, und wenn ich sie frage, was „autochton“ bedeutet, wissen sie es genau so wenig, wie die Normalos. Außerdem neigen sie zu Verschwörungstheorien. Die Finanzkrise, der Irakkrieg, die Nazis und die Juden, alles sollte ihrer Meinung nach nochmals hinterfragt werden. Am liebsten wären ihnen irgendwelche finstere Zirkel. Freimaurer, zum Beispiel. Wer gegen Freimaurer ist, ist noch kein Antisemit, kein Antikapitalist, kein Antikommunist, keine Antifaschist. Wer gegen Freimaurer ist, hat noch keine Konsens verlassen. Unter Freimaurern kann ich mir böse Individuen vorstellen. Da bin ich noch kein schlechter Mensch.
Und ich? Ich kann keine Verschwörung sehen. Ich hätte gerne eine. Gäbe es einen Zirkel, der alles steuern kann, so gäbe es offensichtlich ein weitreichende, weltumspannende Dynamik. Das hieße, dass es eine Mitte geben könnte, wo alle Fäden zusammenlaufen. Es gäbe auch einen tieferen Sinn, nämlich das, was die Verschwörer unter Ausnutzung ihres genialen Netzes zu erreichen versuchen. Die Weltmacht zum Beispiel. Wenn man die hat, was tut man dann damit? Den Hunger aus der Welt schaffen? Oder statt fünfzig Milliarden Dollar hundertfünfzig der selben sein eigen nennen? Was wäre dann? Was tun? Okay, eine größere Wohnung hätte ich schon gerne, aber dafür reichen dreihundertfünfzigtausend Euro – wenn ich mal, sagen wir zehn Millionen hätte, wäre mir jede weitere Verschwörung zu viel, wäre sie wie das Betreten einer neuen Runde auf der Flucht vor dem Winter, der ohnehin nie kommt.
Also bleibe ich doch gleich auf Spitzbergen unter den Sonderlingen. Vielleicht entdeckt ja der eine oder andere eine Verschwörung, welche wirklich stimmt. Da ginge ich dann hin, in dieses Zentrum der Welt. Meinetwegen als Portier bei einem Nebeneingang dieses Palastes oder dieser Festung. Und dann sähe ich schon, wie ich weiterkäme. Diese Suchenden sind mir immer noch lieber, als die schon gefunden Habenden in der Oase mit ihrem blöden, selbstzufriedenen Grinsen.
Also Spitzbergen. Wenn ich denn ein Zugvogel wäre. Da ich keiner bin, bleibe ich stehen, wo ich gerade stehe.
Beim ersten Mal dachte ich, nun müßte etwas passieren, schließlich war es unerhört. Und heute noch verstehen die Menschen nicht, dass nichts passiert, wenn ich mich einfach abkopple. Am ehesten ähnle ich vielleicht jenem aus dem Platonischen Höhlengleichnis, der die Höhle verläßt. Allerdings ist draußen nicht die Wirklichkeit. Draußen ist einfach eine andere Höhle, und außerhalb derer eine neue und so fort. Lauter Höhlen. Da braucht man weder Innovation noch Mut. Man muß einfach nur hingehen und nachschauen.
Und die Enttäuschung ertragen.
Das ist überhaupt das schwierigste. Wer gerade noch die Oase erreicht hat, der kann nicht sagen, dass es nur ein Zufall war. Unmöglich. Den Rest seines Lebens verließe ihn die Panik nicht. Denn so einen Zufall kriegt man nur einmal. Nein, es läßt sich leichter leben, wenn man einen Schutz von oben vermutet. Der kann ja wieder kommen, wenn man jeden Tag brav seine Suppe auslöffelt.
Niemand kann die Enttäuschung ertragen, dass in der Mitte kein Sinn steht, sondern nur ich mit meiner Sehnsucht nach einem Sinn. Wer diese Sehnsucht als solche gesehen hat, und wer weiß, dass aus einer Sehnsucht auf keine tatsächliche Existenz des Ersehnten geschlossen werden kann, der muß eine riesige Last an Enttäuschungen ertragen.
Die Verschwörungstheoretiker aus Spitzbergen haben wohl ins Antlitz dieser grauenvollen Leere geblickt und sie nicht ertragen. Seither suchen sie eine neue Mitte im Abstrusen.
Und ich stehe immer noch in der Kälte.
Und friere.
messingherz - 13. Jul, 17:00