Vom Auffinden des Weges

Die Nacht hat ein Gefälle bekommen. Sie steht nicht mehr wie ein stiller, tiefer Teich im nebelverhangenen Wald. Sie wartet. Ein leichter Wind durchweht sie, und bringt Bewegung in die Finsternis, als wäre sie von unsichtbaren Fäden durchzogen und irgend jemand - größerer als ich - zöge daran.
Die Gespenster haben sich um mich versammelt und wollen wissen, was der Morgen ist, und was er bedeutet. Also will ich ihnen davon erzählen. Vom Sinn will ich ihnen erzählen, der dem Sonnenjungen seine Bahn weist. Ich will ihnen erzählen, soviel ich eben weiß. Und jetzt schon ahne ich, dass sie sich damit längst nicht zufrieden geben werden. Was soll ich ihnen denn sagen, ich, der ich sowenig weiss?

Eigentlich suche ich einen Sinn in meinem Leben, seit ich ein wenig denken kann. All die Jahrzehnte habe ich keinen gefunden. Kurzzeitig gab ich die Sinnsuche auf. Es gab nicht einen, der mich in dieser Frage unterstützte. Ich glaube, es gab nicht mal einen, der mich darin verstand, auch wenn ein paar das vorgaben. Niemand wollte mir glauben, dass ich wirklich geradlinig auf diese Frage zugehe, die offenbar nur sehr jungen Menschen und nur für eine sehr begrenzte Zeit zugestanden wird. "Er pubertiert", da war es noch in Ordnung. Dass ich mit zwanzig immer noch einen Sinn im Leben suchte, wurde mir nicht mehr verziehen. Meine Sinnsuche galt als infantil, als Weigerung, mich im Leben zu orientieren, Verantwortung zu übernehmen, hinaus ins Leben zu treten.

Das mit der Weigerung war ja gar nicht falsch. So gab ich die Sinnsuche für kurze Zeit auf, und tat wie die anderen. Daran bin ich kräftig gescheitert. Ich scheiterte an den kleinen Selbstverständlichkeiten des Alltages - bereits das morgendliche Aufstehen forderte mir schier unüberwindliche Kraft ab. Irgendwann hielt ich mich dann selbst für den Letzten unter den Letzten, und verhängte die endgültigste aller Strafen über mich - einzig der Zufall begnadete mich nochmals.

Da ich ohne Sinnsuche nicht leben konnte, für einen Sinnsuchenden allerdings nirgends ein Platz vorgesehen war, fing ich an, ein Doppelleben zu führen. Nach außen hin lebte ich ein sichtbar klägliches Dasein, das den Menschen ein gewohntes Bild vor Augen führte - gescheiterte Existenzen sind ein normaler Anblick. Mit der Zeit stellte sich sogar ein gewisser Erfolg ein, und die Akzeptanz stieg. Das war gar nicht besonders schwer. Da ich ohnehin nichts ernst nahm, entwickelte ich eine gleichgültige bis spielerische Haltung gegenüber meinen Pflichten. Interessanterweise ist diese Haltung, welche zu nichts und niemandem Bindungen eingeht, eine derzeit bevorzugte. Man kann mich auf eine andere Position setzen oder mich kündigen, man kann mich verlassen, und es berührt mich fast nicht. Einzig die Belästigung, mir wieder eine neue Existenzform aufbauen zu müssen, sieht man mir an. Das gilt als modern, flexibel, aufgeschlossen, konstruktiv, dem Zeitgeist entsprechend. Damit bin ich inmitten der modernsten Lebensentwürfe, die das junge Millenium uns anbietet - es gibt ja nicht zu, dass es sie insgeheim fordert. Und niemand sieht meine Gleichgültigkeit. In meiner Phantasie stelle ich mir manchmal vor, sie verleihen mir den Nobelpreis für eine neue Wirtschaftstheorie, welche die Reichen noch reicher macht, und bei der Verleihung in Stockholm sage ich ihnen dann allen, was für Aschlöcher sie sind.

Dahinter bin ich ein anderer. Da frage ich mich nach dem Sinn der Sonne und des Tages, der Nacht und des Regens. Ich beobachte, was draußen vor sich geht, und wäge ab. Ich sehe die Menschen, wie sie wuseln, und überlege mir, was sie wohl antreibt, wie die Illusionen beschaffen sein müssen, die sie glauben, hoffen und verzweifeln lassen. Ich sehe ihre Aufstiege und erlebe ihre Abstürze, als wäre das Leben ein Film von David Lynch, den ich zum fünften Mal anschaue und immer noch nicht mal die Handlung begriffen habe. Ich suche den Überblick und gehe von dort zur Einzelheit, um meine Schlüsse zu prüfen, und von dort wieder zurück, wenn sie sich als falsch erwiesen haben. Aber ich bin kein Forscher. Nein, das alles mache ich so nebenher, um meine Ratlosigkeit wenigstens ein bißchen zu strukturieren.

Da ich nicht weiß, wohin ich gehe, aber trotzdem gehe, habe ich beschlossen, dass der Weg das Ziel ist. Eine Plattitüde, von der ich mich nur abgrenzen kann, wenn ich genauer sagen kann, was ich damit meine:

Vor vielen Jahren kam ich aus purer Langeweile auf die Idee, wieder mal eine Wanderung zu machen. Ich beschloss, den Hohen XY zu besteigen. Vom Dorf aus wollte ich in aller Herrgottsfrüh aufbrechen, den geraden Weg über die Wiesen nehmen, wenn die Bauern noch in den Ställen sind und mich nicht wegen der paar niedergetretenen Grashalme an Leib und Leben bedrohen, bis zum Beginn des Schutzwaldes.
Von dort müßte irgendwann ein mir bekannter Weg beginnen - wenn er denn nicht ohnehin in eine Forststraße umgepflügt worden wäre. Diesem folgend käme ich zur Z-Alm, wo man den Hohen XY schon von freiem Auge aus sehen könnte. Den Rest ginge ich dann auf Sicht - mir waren die Abgründe bekannt genug, um ihnen auszuweichen.
Es kam anders.
Irgendwo in den Wiesen bog ich zu früh ab, geriet an der falschen Stelle in den Schutzwald, wo sich - natürlich - bald eine Forststraße fand, die mich aber um den Berg herum brachte, und sich wieder nach unten wand. Entschlossen wich ich ab, schlug mich durch das Dickicht, und schließlich durch die Latschen, um zu Mittag genau in jenen Schröfen zu landen, die ich als mir gut bekannt glaubte. Nun lernte ich sie von einer anderen Seite kennen.
Den ganzen Nachmittag kam ich kaum voran, schließlich wußte ich nicht mal mehr genau, wo ich war. Zum Glück ließ mich mein Instinkt die Sache früh genug aufgeben. Ich stieg auf unbekanntem Terrain ab, und kam in ein mir weitgehend fremdes Dorf. Wie in dieser Region zur damaligen Zeit noch üblich fuhr die Post zwei Kurse - einen am Morgen, einen am Abend, jeweils hin und zurück. Auf meinen späten hatte ich noch Stunden zu warten. Ich vertrieb mir die Zeit im Wirtshaus, wo ich auf einen alten Mann traf, der mir Geschichten vom Tal erzählte - nichts außerordentliches, aber seither verstehe ich die Menschen in dieser Region etwas besser.

Es war also doch ein gelungener Tag. Ich hatte die sportliche Betätigung, die ich wollte - wenn auch auf andere Art. Ich habe auch einiges gesehen - zwar nicht vom Gipfel eines Berges, sondern habe von der Gegenwart in die Vergangenheit geblickt. Ich habe das Ziel also nicht erreicht - aber ich hatte einen Weg, und dieser Tag ist seither einer meiner Lebenstage. Ihn zu verneinen, nur weil ich mein Ziel, den Gipfel, nicht erreicht hatte, hieße, mein Leben zu leugnen und damit mich selber.

Ich will nicht aufzählen, was ich in meinem Leben alles erreichen wollte. Erfolg, weite Reisen, elegante Frauen, Abenteuer, Anerkennung, Respekt und dergleichen mehr. Nicht sehr phantasievoll, aber eben das, wohin ich anfangs strebte.
Nichts davon habe ich erreicht.
Schon sehr früh hätte ich feststellen können, dass all das nicht für mich da ist, hätte ich mich nicht lange Zeit an fremdem Maß gemessen. An dieser Latte fiel mein Wert stets ins Bodenlose, und habe ich auf allen Ebenen versagt. Meine Frauen sind mir davongelaufen - und sie hatten guten Grund dafür. Keine der Schulen, die ich begann, habe ich beendet, keinen Beruf habe ich erlernt. Statt Anerkennung übersehen mich die Menschen. Wenn ich auffalle, dann unangenehm - das hat sich mittlerweile etwas gebessert, seit ich mich nach außen hin regelkonform verhalte und den Leuten die Lügen erzähle, die sie von mir erwarten. Dennoch lebe ich nach wie vor.
Wie dieses Leben zu dem geworden ist, was es ist, ist eine Geschichte des Scheiterns und der unerfüllten Hoffnungen.
Aber es ist das einzige, das ich habe.

Wozu noch Ziele setzen, wenn sie ohnehin zu nichts führen?

Diese Haltung hat mich in eine unerträgliche Leere geführt. Mir scheint, dass das gar nicht möglich ist. In dieser Zeit war ich sehr damit beschäftigt, mir alle Bilder und Wünsche zu verbieten, die ständig in mir aufstiegen. Die Abgeklärtheit, die ich mir in diesen jungen Jahren wünschte, war mir nicht zugänglich. Sie ist wohl dem Alter vorbehalten.
Wenn ich einmal alt bin, wird es viele von unserer Sorte geben. Wir werden griesgrämig herumhängen und den Jungen mit unserer schlechten Laune den Tag verderben und ihnen mit unserer Hinfälligkeit auf der Tasche liegen. Sie werden uns das Notwendigste zukommen lassen, aber lieben werden sie uns nicht. Zuviel werden wir ihnen mit unserem langsamen Siechtum vorenthalten. Nur die Menschenrechte werden uns vor der Euthanasie retten.
Nur die Rechte, nicht die Achtung.
Oder die Liebe ...
Hoffentlich sind wir dann innerlich wirklich so wunschlos. Sonst wird das Sterben ein elendigliches.

Ziele setzen brachte mir keinen Erfolg, keine Ziele zu haben, war mir unerträglich. So begann ich mir Ziele zu setzen, die nur einen Zweck haben: mir einen Weg zu geben.
Sobald ich einen Weg habe, sind die Ziele nicht mehr wichtig. Die Ziele müssen irgendwas mit mir zu tun haben. Sie können lustig sein, oder spannend. Und sie müssen so sein, dass ihr Verfehlen kein großer Schaden ist. So komme ich zu meinen Wegen, und alle Wege zusammen machen mein Leben aus. Oft muss ich mir selber gar keine Ziele setzen. Sie ergeben sich aus den Umständen, oder jemand anderer setzt sie mir. Letzteres erachte ich nicht als Einschränkung meiner Freiheit. Da ich die Ziele ohnehin nicht erreiche und nur verfolge, solange es mir nicht schadet, gehe ich damit einfach den Weg des geringeren Widerstandes. Der fremde Zielesetzer ahnt nicht, wie wenig ich auf ihn gebe - er erfährt es ohnehin erst dann, wenn ich schon weitergezogen bin.

Ein Weg wird zu meinem Weg, indem ich ihn gehe. Selbst wenn er mir aufgezwungen wird, ist er meiner, sobald ich meine Schritte auf ihn setze. Deswegen achte ich darauf, anderen Leuten nichts allzuschlimmes anzutun, denn selbst wenn mir der Weg befohlen wurde, ist es doch mein Weg. Und den will ich nicht mit Untaten pflastern. Menschen, die danach trachten, die Wege, die sie gehen, vor sich selbst zu vernebeln, sind Menschen, die kein Leben haben. Ohne Leben ist man tot.
Lebende Tote sind Zombies.

Und auf diese Art habe ich meine Freiheit gefunden. Das hat weder die Einsamkeit noch die Gespenster zum Verschwinden gebracht. Ich nehme sie als Teil meines Weges. Er ist nicht ohne Schmerzen oder Trauer. Aber die kreuzen die Wege aller Menschen - weshalb sollte gerade ich eine Ausnahme sein.
Dieses ratlose Gehen ist mein Leben. Und was ich sehe, das formt mich und macht mich zu dem, was ich geworden bin.

Nur meine Nachtseite, die geht nicht, die ruht in einer seltsamen Mitte, und die Gespenster fliegen um mich herum wie die Möwen um den Leuchtturm. Manchmal denke ich mir, dass die Geister ohne mich vielleicht gar nicht wüßten, was sie tun sollten. Vielleicht bin ich das einzige Licht in ihrer Dunkelheit, und sie wären ohne mich genau so ratlos. Sie sind mir näher als die Menschen und vielleicht empfände ich sogar ein wenig Freundschaft für sie, wären ihre Fratzen nicht so abstoßend. Ich weiß um die Verantwortung, die ich den Menschen da draußen gegenüber habe - vielleicht gibt es eine, die genau so schwer wiegt, und meinen Gespenstern gelten sollte.

Da leuchten die Augen der Gespenster kurz auf. Es ist ein bläuliche Funkeln in den nebelgrauen Schädeln. So schrecklich es ist - da flackert auch ein stilles Seufzen darin. Das erste Mal blicken sie wortlos zu Boden. Und es ist still in meiner dämmrigen Kammer. Es wird Zeit für die Untoten.

Mit seiner verformten Miene bedeutet mir das größte unter den Gespenstern, dass meine Antwort vielleicht ein Anfang sei, aber dass noch immer vieles fehle. Sie stecken die Köpfe zusammen und tuscheln. Als sie sich wieder mir zuwenden, sagt das Gespenst in jener Sprache, für die es keine Schrift gibt, dass es nicht genug sei, dass der Tiegel noch nicht voll sei. Noch längst nicht. Aber wenigstens sei der Boden bedeckt. Sie anerkennen, dass ich es versucht habe. Aber wir sind noch nicht am Ende.

Wir sind noch lange nicht am Ende.

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