Vom Geld

Warum, so wollen meine Gespenster wissen, bin ich auf der Tagseite des Lebens? Was gibt es dort, dass ich sie nicht einfach loslassen kann? Denn es erfordert Anstrengung, im Licht zu leben. Es schmerzt die Gespenster, wenn sie sich in unbehaglicher Stellung in irgendwelche enge Nischen meines Daseins pressen müssen, um von den einfallenden Lichtstrahlen nicht getroffen zu werden. Es tötet sie nicht. Wenn das ginge, breiteten sie ihre Arme aus und würfen sich dem Licht entgegen. Aber das Licht tötet sie nicht - es verurteilt sie. Es verurteilt sie zum Dasein als Untote, und die Bilder, die ihnen in diesen wenigen Momenten unauslöschlich eingebrannt werden, machen ihnen die Ewigkeit zu einer ewigen Qual.

Morgen werde ich meine Haut erneut zu Markte tragen, und meine Gespenster wollen sicher sein, dass sie diesen Tag überstehen werden. Eine Bewerbung steht an.

Diesmal bewarb ich mich für eine Assistentenstelle. Was auch sonst. Solange es nichts solches ist, wo ich anderen Leuten Kaffee servieren muss. Das Gastgewerbe hasse ich von ganzer Seele. Noch nie habe ich dort gearbeitet, und das werde ich auch nie tun. Ich verabscheue diese Domestikenarbeit. Meiner Meinung nach ist es ein Relikt aus der Feudalzeit, das in einer Republik keinen Platz mehr haben darf. Aber mit dieser Meinung stehe ich alleine. Viele meiner Freunde haben das schon gemacht und schwärmen davon. Vor allem vom Trinkgeld. Ich war mal Aufsichtsperson in einem Lokal mit Spielautomaten. Da hätte ich auch Kaffee servieren sollen - zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich das einige Abende tatsächlich machte. Verwunderung rief ich hervor, weil ich jegliches Trinkgeld ablehnte. Die Leute freuten sich aber nicht, dass sie sich was sparten, sondern wurden immer misstrauischer. Komische Menschen. Schließlich gab es Streit, mein Arbeitgeber und ich, wir trafen uns vor dem Arbeitsgericht wieder. Das war's dann. Übrigens gewann ich den Prozess. Meine Kollegen hingegen blieben dort, und kompensierten das vorenthaltene Gehalt mit dem Trinkgeld. Mein Mitleid hält sich in Grenzen. Domestiken haben es nicht besser verdient, wenn sie auf ihrer Rechte zugunsten von Almosen verzichten.

Das besondere an der Stelle, wegen der ich morgen wieder ins Tageslicht muss, ist, dass es nur zwanzig Stunden sind. Die für mich relevante Frage wird sein, wie viel sie dafür bezahlen. Ich überlege mir, wie weit ich runter gehen will. Mein letzter Job brachte mir über zwanzigtausend per annum. Kalkuliere ich knapp, brauche ich eintausend Euronen im Monat. Ich müsste also auf zwölfhundert brutto kommen. Vielleicht sollte ich vierzehnhundert verlangen. Das blöde Spiel besteht ja darin, dass sie mich fragen, was ich denn will, obschon es gar keinen Verhandlungsspielraum gibt. Einfach um mir eine blöde Frage zu stellen. So wie etwa: Was sind Ihre negativsten Eigenschaften? Ja, das fragen die immer noch. Vor vier Wochen kam das wieder. Aber es regt mich nicht mehr so auf, wie früher. Ich lächelte die Dame kalt an, und antwortete, dass das Negative in der Übertreibung meiner guten Eigenschaften liege. Und dann redete ich weiter darüber, wie toll ich bin. Ich halte mich nicht für toll. Bei Bewerbungen verkaufe ich ganz jemand anderen. Ich sitze im schwarzen, eleganten Anzug da, und stelle mir vor, dass ich mehrfacher Millionär bin, und mich aus lauter Langeweile bewerbe. Oder ich bin eine Geheimagent mit einem Geheimauftrag, und muss diese Bewerbung zu Spionagezwecken absolvieren. Dann sitze ich da und spiele, ich sei jemand anderer. Das Messingherz ist nämlich unverkäuflich - das gibt es nur zwischen diesen Zeilen ...

Es ist eine grundsätzliche Entscheidung. Als ich vor Jahren nach einer langen Phase der gesellschaftlichen Abstinenz wieder damit begann, regelmäßig zu arbeiten, ging es mir darum, ins System hinein zu kommen - also versichert zu sein, anspruchsberechtigt und so weiter. Dann ging es um die Hebung meines Lebensstandards. Auch das habe ich mittlerweile erreicht. Was nun? Soll ich mich weiter ins System hinein bewegen, oder soll ich dort bleiben, wo ich jetzt bin, wo ich auch mein Ein- und Auskommen habe. Soll ich noch weiter in die Welt hineingehen, oder soll ich es mit dem Erreichten gut sein lassen und mir neue Aufgaben abseits des lauten Getriebes suchen? Der Halbzeit-Job wäre eine Vorentscheidung gemäß letzterer Alternative. Damit kann ich mich am Leben halten, und habe daneben genügend Freizeit.

Was hält mich in der Welt? Da gibt es Menschen, es bewegt sich was, ständig ist man unterwegs, geht viel weg, lernt immer neue Leute kennen, befreundet sich, verliebt sich, trennt sich wieder. Und man ist nicht alleine.
In der Welt gibt es Möglichkeiten, die ich in meiner kleinen Kammer nicht habe. Die Welt ist im Licht - aber deswegen werde ich meine Schatten nicht los. Und ich habe auch keine Lust, sie in anderen Menschen zu suchen.
Meiner Meinung nach tun das die meisten Leute. Sie haben ihre Schatten, genau so wie ich. Aber sie wissen es nicht. Sie spüren den Druck, erkennen aber nicht, dass es sich um einen inneren Sog handelt, sondern blicken in die Welt, wo denn der Bösewicht sitzen könnte. Natürlich finden sie etwas. Sie finden immer jemanden, der gerade einen Fehler gemacht hat. Wir machen ja dauernd irgendwelche Fehler. Die werden dann nach Bedarf zu kleinen Ursachen für großes Unheil stilisiert. Der Schuldige ist gefunden, wird noch ein wenig gequält, und man hat wieder ein wenig Ruhe. Bis zum nächsten Sog aus der Tiefe.

Ich bin da zweigeteilt: eines Teils schätze ich die Menschen, zwischendurch verabscheue ich sie immer wieder.
Es liegt an mir: manchmal zieht mich etwas in die Tiefe, und dem muss ich dann nachgehen. Da kann ich keine anderen Menschen neben mir brauchen. Alle meine Beziehungen sind schließlich daran gescheitert. Nein, das hatte auch andere Gründe. Aber mein unheimlicher Seelenzustand ist einer davon. Diese andere Seite springt immer wieder hervor, wenn sie sich vernachlässigt glaubt. Oder wenn sie so eifersüchtig wird, wie Kain auf seinen Bruder Abel, und nicht verstehen mag, warum nur der lichte Bruder von allen geliebt wird, und was Liebe denn sei, wenn sie nicht beiden Seiten gelte.

Wer keinerlei soziale Beziehungen pflegt, braucht Geld. Geld ist sozusagen der große Ersatz dafür. Für mich ist das Vorhandensein von viel Geld ein Gradmesser für den Wunsch nach sozialen Beziehungen.
Ich meine diesen letzten Begriff sehr allgemein: immer wenn Geld seinen Besitzer tauscht, so liegt eine soziale Beziehung vor. Ich weiß nicht, ob dieser Aspekt in der Geldtheorie überhaupt Berücksichtigung findet.
Ich stelle mir zum Beispiel eine Großfamilie im Mittelalter vor. Die machen praktisch alles selber: Gemüse ernten, Jagen (wenn es erlaubt ist) und Fischen. Verarbeitet wird in eigener Hausarbeit: Kochen, Spinnen, Weben, Nähen. Nicht, dass ich dieses Leben beneidenswert finde, aber es kommt ohne die Geldware aus. Geld braucht man nur, um das zu zukaufen, was man selbst nicht produzieren kann.
Als Vergleich dazu mein modernes Singledasein: alles, was ich noch selber mache, ist das Tiefkühlmenu in die Mikrowelle schieben - produziert hat es wer anderer (oder halt die Maschinen), ich habe dafür bezahlt. Wird es kalt, drehe ich die Heizung auf - selber im Wald Holz schlägern, würde mir gar nichts nutzen, weil ich einen Gasofen habe, mit Brennstoff, der aus Russland kommt.
Oder umgekehrt: angenommen, ich hätte, kein Geld - wo käme ich zu Essen, Heizung, Kleidung, selbst wenn ich bereit wäre, es selber zu machen, es geht einfach nicht mehr, weil ich im Wald nichts jagen darf, weil ich gar nicht weiß, wie man Stoff selber aus Rohstoffen herstellt.
Mit einfachen Worten: wir sind alle zu Konsumenten gemacht worden - nur in einem schmalen Segment der arbeitsteiligen Gesellschaft produziert der einzelne. Deswegen hat man einen Job. Alles andere besorgt man sich beim "Spezialisten", indem man Ware gegen Geld tauscht, welches ich in meinem "Job" verdient habe. Der Mensch muss nicht deswegen arbeiten gehen, damit er nicht verhungert, vielmehr haben wir ein System geschaffen, wo ich meine Zeit gegen Geld tausche, um dann die Lebensmittel zu besorgen, welche mir auf andere Art zu beschaffen überhaupt nicht gelehrt wurde, wenn es nicht ohnehin verboten wäre.
Wenn ein Mensch verhungert, dann nicht, weil die Welt ihn nicht versorgen könnte, sondern weil es dem Menschen verboten wird, es unmittelbar zu tun - er darf es nur als Konsument tun. Wir sind also immer noch irgendwie eine Großfamilie - eine bestehend aus mehreren Millionen - oder gleich Milliarden, wenn man global denkt - und die Patriarchen lassen uns in ihrem Interesse arbeiten - wer sich weigert, kriegt nichts zu essen. Und wehe, er "besorgt" sich selber was - darauf steht in fast allen Fällen Gefängnis. Wer keine Konsument ist, kann nur ein Dieb sein - und die lutherische Moral hat zahlreiche und wenig schmeichelhafte Worte für jene, die essen, obwohl sie nicht arbeiten.

Okay, das ist jetzt sehr simpel dargestellt, aber es beschreibt die Grundstruktur, die ich zu sehen glaube.

Damit in dieser Großfamilie der Tausch halbwegs ordnungsgemäß vonstatten geht, braucht es das Geld. Und diesem Sinne meine ich es, wenn ich sage, dass Geld soziale Beziehung ersetzt. In der kleinen Familie kennt mich der Onkel und ich kenne meinen Cousin - in der globalen Großfamilie kennen sich die Leute nicht mehr. Aber wenn ich den zu bezahlenden Preis auf die Theke lege, kriege ich, was ich bestellt habe. Ich brauche keine Gattin mehr, damit es warm ist, wenn ich aus der Arbeit nach Hause komme - ich drehe einfach den Ofen auf. Ich brauche niemanden mehr, der für mich kocht - ich schiebe einfach das Fertiggericht ins Backrohr. Und für die schmutzige Wäsche habe ich auch eine Maschine. Statt dem zeitaufwendigen Einmachen zur Vorratsanlegung, gibt es Konserven, die nur ein Bruchteil dessen kosten, was mich eine Gattin "kosten" würde.

Die Gehälter, die heutzutage ausbezahlt werden, waren ihrem Umfang nach eigentlich dazu da, eine Familie zu ernähren. Ich hingegen verprasse all das als Single. Ein Familienvater mit einem Kind müsste dreimal soviel Geld haben, um mit meinem Lebensstandard mithalten zu können - hat er nur doppelt so viel, ist er schon ärmer. Ganz zu schweigen, wenn er noch mehr Kinder hat. Das ist übrigens meiner Meinung nach der Grund, weshalb Familien so oft an der Armutsgrenze liegen: es sind die Singles, welche die Ansprüche festlegen, die Nachfrage und die Trends bestimmen - daran gemessen fühlen sich Familien immer subjektiv benachteiligt, weil sie nie so viel zur Verfügung haben werden.

Welchen Grund soll es überhaupt noch haben, dass man ein Paar bildet und gemeinsam Kinder zeugt und großzieht. Mehr Pension kriege ich nicht, im Gegenteil: Mütter kriegen sogar weniger Pension, weil ihnen Sozialversicherungszeiten fehlen, ganz zu schweigen vom Karriereknick, der in diesem Leben fast nicht mehr aufzuholen ist. Wenn man dann unter vielen Opfern dafür gesorgt hat, dass die Kinder eine gute Ausbildung gehabt haben, gut verdienen, deswegen auch viele Steuern zahlen müssen, hat die Mutter doch nur die Mindestpension - der größere Teil der Abgaben des gut verdienenden Sprösslings erhält der Single, der ungestört Karriere machen, das viele Geld alleine durchbringen konnte und zum Lohn dafür nun auch noch die höhere Pension kriegt, weil er länger und mehr eingezahlt hat.

Wer also in diese Welt, die nur aus Konsumenten und Produzenten besteht, auf soziale Beziehungen setzt, indem er eine Familie gründet, der hat aufs falsche Pferd gesetzt. Die moderne Geldwirtschaft verträgt das auch nicht. Dafür sind wir heute alle ein bisschen einsam.
Vor hundert Jahre gab es viele Gründe, warum Mann und Frau zusammengehen, und wenn es nicht die Liebe war, so war es doch die wirtschaftliche Notwendigkeit, welche die beiden zusammen hielt, und vielleicht hat da auch die Liebe ein kleines Plätzchen für sich gefunden, wo sie sich entwickeln konnte.
Wir moderne Menschen können uns voll und ganz auf das Wesen der Liebe konzentrieren, befreit von allen materiellen Notwendigkeiten uns ganz der Substanz des großen Gefühls hingeben - und sollten nun endlich entdeckt haben, dass dieses Gefühl eben nicht ein ganzes Leben lang hält, wenn zwei nur das verbindet und sonst nichts, und das solch eine Liebe im Finsteren besser gedeiht und länger hält, als im Licht.

Deswegen haben einsame Menschen auch viel mehr Liebe im Herzen: dort ist sie so gut geschützt, dass sie länger bestand hat. Im wirklichen Leben muss sie scheitern. Denn sie ist nur ein kleines Gefühl gegen all die wirklichen Dinge, die auf uns einstürmen.

Was also diese Welt und die Menschen zusammenhält, was dafür sorgt, dass sie sich begegnen, das sie etwas tun und die anderen daran teilhaben lassen, was sie motiviert und aufeinander zu gehen lässt, das ist das Geld.
Es gibt daneben noch andere Gründe, sich zu begegnen, aber die werden immer weniger. Ich merke es selber: seit ich mich nicht mehr mit Geldverdienen beschäftige, treffe ich viel weniger Menschen. Und mit den wenigen, weiß ich immer weniger zu reden, weil sie ihre wichtigsten Erlebnisse beim Geldverdienen oder Geldausgeben haben: "Ich konsumiere, folglich bin ich".
Was immer ich im Leben brauche: es ist kein Netz von Menschen, die zusammen gehören und miteinander und füreinander was tun, mit denen ich gemeinsam mein Leben bestreite. Vielmehr ist es das unüberschaubare Netz von Konsument und Produzent, von dem ich mich nähre, indem ich alles, was ich selber nicht kann - und ich kann neunundneunzig Prozent dessen, was ich brauche, nicht selber produzieren - von außen hinzukaufe. Das dazugehörige Mittel ist das Geld.

Sogar das, was von sozialen Beziehungen nach dieser monetären Austrocknung noch übrig ist, nämlich Liebe und Freundschaft, hat mehr den schnöden Mammon als Grundlage, als die meisten Menschen zugeben. Das merkt man dann, wenn man viel Geld hatte, und plötzlich nicht mehr. Dann merkt man, wie sich plötzlich der Freundeskreis verändert, weil man die kostspieligen Freizeitvergnügungen nicht mehr finanzieren kann, wie die Geliebte plötzlich entgleitet und " ... sei mir bitte nicht böse, aber es ist Samstag Abend, und da kannst du nicht von mir verlangen, dass ich zu hause herum sitze. Warum hast auch kündigen müssen! Hättest Dich halt zusammengerissen, das müssen wir doch alle tun! Aber Du musstest ja wieder den Idealisten heraushängen lassen!"
Denn auf Samstag Abend konzentrieren sich alle Hoffnungen der Menschen, die die Hoffnung schon längst aufgegeben haben, dass sich an einem anderen Wochentag noch das Leben ändern könnte. An Samstagen begegnen sich die Liebenden, und an Samstagen trennen sie sich auch wieder.

Die anderen Tage haben keinen Platz mehr für sie.

Meine Gespenster schütteln ratlos den Kopf. Sie verstehen nicht, was an den anderen Tagen anders sein soll. Schließlich scheint das Licht doch auf alle Tage. Aber was wissen diese Nachtwesen schon vom Tag. Ich bemerke ein Zögern. Wenn das so ist, sagt das größte der Gespenster zu mir in seiner Sprache, die ich nicht aufschreiben kann, wenn das so ist, wissen wir nicht, ob wir wirklich in den Tag wollen.

Vielleicht haben sie recht. Vielleicht sind sie in der Nacht wirklich besser aufgehoben. Ich frage mich selber ja auch manchmal, weshalb ich mich all diesen Zumutungen noch aussetze.

essay
Fussball
Gesellschaft
Nachtbuch
Österreich
Politik
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren