Wie man im Rechtsstaat verhungert

Ein Asylwerber ist in der Schubhaft verhungert. Er ist in Hungerstreik getreten, um aus der Haft raus zu kommen. Daneben soll er falsche Angaben gemacht haben. Diese beiden Gründe genügen, damit man sagt, es sei seine eigene Schuld.
Die Logik dahinter: wer freiwillig nichts ißt, muß sich nicht wundern, wenn er verhungert. Außerdem hat er ohnehin gelogen. Will heißen, er hat sich nicht ganz moralisch verhalten. Dadurch hat er sich ins Unrecht gesetzt, und hat Strafe verdient. Haft nämlich.

Eigentlich war er nicht in Haft, weil er gelogen hat, sondern damit er nicht fliehen kann. Er hat eigentlich gar nichts angestellt. Er wollte in Österreich Asyl, wurde abgelehnt, erhielt einen Bescheid, daß er das Land verlassen mußte, wurde schließlich „angehalten“ - also eingesperrt, damit er sich vor der Abschiebung nicht mehr aus dem Staub machen konnte. Die Abschiebung war schon vorbereitet – obschon einige Schubhäftlinge Monate dort sind, bis sie zurück geschoben werden.

Bei den Österreichern kommt das nicht wirklich an. Sie hören nur, daß jemand eingesperrt wurde. Daß er gelogen hat, ist sozusagen die nachträgliche Rechtfertigung fürs Einsperren. Sein Tod ist halb Strafe fürs Lügen, halb eigene Entscheidung: er wollte ja nichts mehr essen.

Was die Leute nie verstanden haben, ist die Bedeutung der Rechtsstaates. Man kann nur eine Strafe kriegen, wenn man etwas angestellt hat. Und man kriegt die Strafe für das, was man angestellt hat, und nicht für irgendetwas anderes, daß man sozusagen während Absitzen der Strafe nachgereicht bekommt. Sollte noch was auftauchen, muß man einen neuen Prozeß machen. Ohne das gibt es keine Strafe.

Was sie auch nicht verstehen, ist, daß Schubhaft Freiheitsberaubung ist, welche wegen einer Verwaltungsübertretung verhängt wird. Die Leute meinen, es muß was schlimmes sein, sonst wären sie ja nicht eingesperrt.

In Wirklichkeit ist es aber auch kein Mißverständnis. Die Leute haben wirklich etwas angestellt: sie sind Ausländer. Und das genügt in den Augen der Mehrheit, daß sie keinen Zugang zum Rechtsstaat erhalten. Denn die Österreicher verstehen nicht, daß der Rechtsstaat „immer“ gilt. Sie haben es auch nicht anders gelernt. Den Zugang zum Rechtsstaat muß man sich zuerst mit Wohlverhalten erwerben. Man darf keinen Mächtigen geärgert haben. Nur dann kommt man in den Genuß des Rechts. Wer sich nicht wohlverhält – Punker, Ausländer, Schwule, Kommunisten und so weiter – die kommen gar nicht bis zu einem Richter. Die werden schon vorher abgefertigt. Denen werden genügend Steine in den Weg gelegt, sollten sie den Rechtsstaat einklagen. Aber wenn sie was anstellen, dann gilt der Rechtsstaat sofort. Dann werden sie bestraft.

Dieses Land war viel zu lange autoritär regiert. Heute noch müssen Politiker stark sein, damit sie gewählt werden. Von Zeit zu Zeit wirft man ihnen diese Stärke vor, und nennt es Machthunger. Dann gibt sich eine Politikergeneration wieder eine Zeit lang jovial – der „gütige“ Vater. Bis man ihm vorwirft, sich von allen auf der Nase herumzutanzen zu lassen. Dann muß er wieder stark sein.
Aber immer muß er „Vater“ sein, eine Autorität. Er muß Wohltaten verteilen.

Wenn ein Politiker etwa irgendwas umsetzt – beispielsweise eine Umfahrungsstraße – danken ihm die Menschen am Ende dafür. Sie danken ihm dafür, daß er ihre Steuergelder in eine Umfahrungsstraße gesteckt hat. Sich selber danken die Menschen fürs Steuerzahlen nicht. Aber dem Landeshauptmann. Als käme das Geld aus seiner Privatschatulle wie bei Kaisers.

Zu Kaiser's Zeit gab es noch kein Recht auf Investition der Steuern in die Allgemeinheit. Heute sind wir eine Republik. Der Staat ist eine öffentliche Angelegenheit. Das haben die Leute einfach nicht begriffen. Sie glauben immer noch, daß sie alles von den Politikern geschenkt bekommen. Nun gut, mittlerweile hat eine schmale Schicht zumindest begriffen, daß es eine Demokratie gibt. Aber sobald sie davon Gebrauch machen, wählen sie Rechtsradikale. Jörg Haider hat ihnen vorgemacht, wie man die eingebildeten Väter, die einem nichts mehr schenken wollen, Mores lehrt. Wie ein ewig pubertierender Junge hat er sich keck vor die Väter gestellt und ihnen den Stinkefinger gezeigt. Da waren die alle ganz perplex. Und einige im Volk haben begriffen, daß sie sich vor den Vätern gar nicht mehr zu fürchten brauchen.

Aber heimlich wollten sie selber Väter werden. Als sie es dann wurden, haben sie sich zuerst mal selber am Staatseigentum bedient. Daneben haben sie viel verschenkt, damit ihnen die Menschen gewogen bleiben. Am Ende kriegt man aus den Menschen die Väterhörigkeit einfach nicht mehr heraus: entweder man kuscht vor dem Vater oder man wird selber einer.

Wenn sich aber jemand nicht daran hält – Punker, Ausländer, Schwule, Kommunisten und so weiter – dann hat er jedes Recht auf diesen Staat verspielt.

Da das Recht nur sporadisch gilt, ist eine Politikerkaste an die Macht geraten, welche es mit dem Recht nicht mehr so genau nimmt. Im „Falter“ werden gerade einige solche Fälle abgehandelt. Die Leute regen sich auch fast gar nicht darüber auf. Man ist es mittlerweile gewohnt, daß sich die Mächtigen nicht an die Gesetze halten oder es sich sonst irgendwie richten. Der Rechtsstaat wird auch hauptsächlich angewendet, um es jenen, die nicht dazu gehören, so richtig zu zeigen.

So kommt es, daß Asylwerber eingesperrt werden, obschon sie gar nichts angestellt haben. Sie gehören einfach nicht dazu. Sie verhalten sich nicht so, wie man sich verhalten soll – essen anders, reden anders, ziehen sich anders an. Anderssein ist das Gegenteil von Wohlverhalten. Und wer sich nicht wohlverhält, hat auch keinen Anspruch auf den Rechtsstaat.

So sehen das die Leute. Und werden sich noch wundern, wenn sie den Rechtsstaat eines Tages selber brauchen, und er gilt nichts. Wir haben alle mitgeholfen, daß er nichts gilt.

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