Wintersonnwende

Meine Tage enden im Morgengrauen und beginnen in der Abenddämmerung. Ich bin nun sozusagen am Fuße der Nacht, an ihrem Nadir angelangt. Ganz hat sie mich verschlungen. Ab dieser Nacht werden die Nächte wieder kürzer und die Morgen länger. Schritt für Schritt werde ich mich wieder dem Licht und ihren Menschen annähern, bis ich wieder ganz im Tageslicht stehe - von ganz am Anfang bis ganz am Ende. Die Gespenster werden nur noch Träume sein, dekonstruierbare Erinnerungen.

Statt eines Nachtbucheintrages wollte ich eine Bewerbung schreiben. Nun wird doch wieder ein Eintrag. In der Früh - wenn für mich eigentlich Schlafenszeit ist - werde ich zum Arbeitsamt pilgern, und meine Arbeitswilligkeit nachweisen. Ich habe einen dicken Stoß Bewerbungen - alles Absagen, aber da kann ich nichts machen. Hauptsache der Stoß ist dick. Einige davon habe ich ins elektronische Nirvana geschickt. Da würde mir aber nur ein Tüftler dahinterkommen. Um diese Zeit schlafen die Tüftler vom Arbeitsamt, und wenn sie wachten, läsen sie bestimmt keine Nachtbucheinträge.
Meine Referentin ist ein junges Mädchen, das wohl kaum eine Ahnung davon hat, wie der Arbeitsmarkt aus der Sicht des Hausierers seiner eigenen Haut aussieht. Vielleicht hat sie eine einzige Bewerbung im Leben geschrieben, die ans Arbeitsamt, und ist gleich untergekommen. So stellt sie sich wahrscheinlich das Leben vor - wenn man will, dann schreibt man, und dann kriegt man.

Vielleicht bin ich auch ungerecht mit ihr, wo ich sie doch gerade mal drei Minuten in einem Monat sehe. Was weiß ich schon davon, wohin sie geht, wenn der Parteienverkehr beendet ist, wen sie anruft. Ich denke, sie hat eine "beste" Freundin, bei der sie abladen kann, über ihre Kollegen schimpfen, über die Arbeitssuchenden, " ... weißt, ich hab ja nix gegen die Ausländer, aber eins muss ich schon sagen ...". Ich bin schon wieder ungerecht und lege dem jungen Mädchen alles üble in den Mund, das ich so zu hören bekomme. Vielleicht hat sie ein großes Herz, das noch nicht gebrochen wurde. Vielleicht liebt sie heimlich jenen, den alle lieben, und träumt von einem gemeinsamen Glück im Grünen, mit zwei Kindern und Golden Retriever. Nein, ich denke, sie denkt gar nicht. Sie schminkt sich morgen Abend die Augen schwarz und geht tanzen, trinkt süße Alkopops, schakert mit Männern, die ich noch nie gesehen habe, weil sie mir nie auffallen. Wochenende. Das war's dann.

Vielleicht hat sie irgendwann Glück. Und scheitert.
Und sitzt des nächtens mit klammen Fingern in einer kleinen Wohnung, mit nichts als sich selbst und ihren Gespenstern, und hält einsame Zwiesprache.
Wir sind nicht zur Welt gekommen, um glücklich zu sein. Ich weiß zwar nicht, wieso sonst, aber das mit dem Glück ist ein Wahn, ein Nachtgespenst, dass sich ein Tagesgewand übergezogen hat. Wer nach dem Glück strebt, endet in der Katastrophe. Deswegen sind die Bürger alle so mittelmäßig. Instinktiv machen sie auf halbem Weg halt, weil sie spüren, dass das Glück eine Chimäre ist, eine Fata Morgana. Das Glück ist ein Traum, und wenn man es dort beläßt, und nicht verlernt, auch mit offenen Augen zu träumen, so hat man das beste aus dem Glück gemacht.

Ich suche einen Sinn in diesem Leben.

So, jetzt ist es gesagt. Schon von klein auf wollte ich einen tiefen Sinn in allem. Als Kind hatte ich ihn auch. Es war das Christkind. Ja, so naiv war ich, und seine Enttarnung konnte ich nie überwinden. Eigentlich bis heute nicht. Nein, ich suche nicht mehr das Christkind. Aber damals war es der Beweis dafür, dass es Gespenster gibt. Gute Gespenster - die bösen kannte ich ohnehin schon. Sie setzten sich des nachts auf meine Brust mit ihren seltsamen Knien, die nach hinten knicken, und nahmen mir die Luft, sodass ich niemanden um Hilfe rufen konnte.
Als man mir dann sagte, dass es keine Gespenster gibt, war es dann auch egal, dass ich niemanden rufen konnte - es wäre ohnehin keiner gekommen. Wenn doch, hätte er mich ausgelacht.
Das Christkind aber, das war ein gutes Gespenst. Es war unsichtbar, und an das glaubten auch die Erwachsenen. Und das beschützte mich dann in der Dunkelheit. Ich verzichtete auf die Geschenke - die kriegte ich ohnehin von den Erwachsenen - aber ich kriegte seinen Schutz. Und das Versprechen, dass alles einem tiefen Geheimnis folgte.

Ich verlor das Christkind an meinem ersten Schultag. Es beschützte mich nicht davor. Es beschützte mich auch nicht an meinem ersten Arbeitstag. Beides war schlimmer, als die Gespenster, die sich nachts auf meine Brust setzten.
Ich war fassungslos. Das war es also, das Leben? In diesem staubigen Magazin Säcke schlichten? Damals strebte ich noch nach dem Glück, von dem ich nur eine vage Vorstellung hatte. Aber Arbeiten war garantiert das Gegenteil davon.
Ich türmte.
Ich türmte oft, und die Notwendigkeiten des Lebens zogen mich immer wieder zurück. Ich bin auch an jenem Abgrund gestanden, an dem viele stehen, und ich bin diesen einen Schritt gegangen, welcher als letzter gedacht ist. Ein Netz an helfenden Händen fing mich auf, bevor ich aufschlug. Es war mir alles dermaßen egal, dass ich mich treiben ließ. Aus purer Antriebslosigkeit. Aus purer Gleichgültigkeit. Es dauerte lange, bis ich erkannte, was mich wieder ins Leben bringen konnte: es musste ein Sinn sein. Nicht dieser "Entschluß" oder die "Willensentscheidung", von denen die Coaches in den AMS-Kursen sprechen. Nein: ich rede von der tiefen Verbundenheit mit dem Universum. Nicht mehr und nicht weniger. Nur kurze Zeit verkündete ich das - selten habe ich mich lächerlicher gemacht. Ich hätte genausogut sagen können, ich suchte nach dem Christkind ... und genau das war es wohl.

Vielleicht suche ich das Christkind. Und weil es mich damals, als es noch existierte, vor den Gespenstern bewahrte, lasse ich wieder die Gespenster zu mir kommen. Wenn es sie gibt, gibt es auch das Christkind.
Gibt es auch den Großen Universellen Sinn.
Gibt es den Weg, den ich zu gehen habe, unabhängig davon, ob ich das Ziel erreiche oder nicht.
Denn es geht darum zu gehen, im Glück, wie im Unglück, und sei es auf den Tod zu, den ich zur rechten Zeit werde willkommen heißen. Am Ende gehen wir ja doch alle auf den Tod zu, und was immer wir erreicht haben, werden wir zurücklassen müssen. Also halte ich mich nicht besonders mit dem Sammeln von Schätzen auf. Ich sammle dann, wenn mein Weg mich dorthin führt. Und ich lasse die Türe meines Hauses offen hinter mir, wenn ich weiterziehen muss. Sollen die Bettler sich doch daran sattessen.

Der Weg ist ein gewundener. Und er ist immer der kürzeste. Selbst die großen Schleifen sind keine Umwege und die falschen Wege, die mich zur Umkehr zwingen, tun dies, damit ich den Weg nochmals von der anderen Seite betrachten kann. So erkannte ich, dass wir im Großen Gegensatz leben und ohne ihn alles sich auflöste. Aber die wichtigste Antwort habe ich noch nicht gefunden: Warum bin ich? Ich hoffe, dass die Antwort am Ende des Weges auf mich wartet.

Ich spreche schon in der Sprache der Nacht, die jener der Kinder nicht unähnlich ist. Am Tage spreche ich so wie alle Menschen. Und wenn ich morgen wieder den Menschen begegne, werde ich mich sehr zusammenreißen müssen, um mich nicht zu verraten. Sie wird mir von ihren Absichten und Vorschriften erzählen, und von ihren biederen Anschauungen.

Wer den Sinn des Lebens sucht, sucht alleine. Das ist auch gut so. Ich habe mal versucht, meinen Weg zu zweit zu gehen. Hat nicht geklappt. Wer unter den Menschen lebt, sollte auch nach ihren Regeln leben. Zumindest vordergründig. Unsere pluralistischen Verformungen lassen so viele Ausbuchtungen zu, dass selbst ich einen Platz finde, solange ich mein Radio auf Zimmerlautstärke höre. Wie sagt doch Shreks Prinzessin Fiona: "Unter tags ist es so, des nachts ist es ganz anders." Eine meiner besten Freunde würde mich für dieses Zitat verhöhnen. Niemand unterlegt Lao Zi's ewige Wahrheiten mit einem Zitat aus Disney Productions. Aber hat schon irgend wer auf den Text jenes Liedes gehört, der die Liebestrauer Shreks unterlegt, "Hallelujah" von Leonard Cohen - keine Ahnung wie dieses Lied in diesen Film geraten ist:

I've heard there was a secret chord
that David played, and it pleased the Lord
But you don't really care for music, Do you?
It goes like this, the fourth, the fifth
The minor Fall, The major lift,
The baffled king composing, hallelujah

Your faith was strong but you needed proof
You saw her bathing on the roof
Her beauty in the moonlight overthrew you
She tied you to a kitchen chair, she broke your throne
she cut your hair and from your lips she drew the halleujah

Maybe I've been here before
I know this room, I've walked this floor
I used to live alone before I knew you
I've seen your flag on the marble arch
love is not a victory march
it's a cold and it's a broken Hallelujah

There was a time you let me know
What's real and going on below
but now you never show it to me, do you?
And remember when I moved in you
the holy dove was moving too
And every breath we drew was Hallelujah

Maybe there's a God above
And all I ever learned from love
Was how to shoot at someone who outdrew you
It's not a cry you can hear at night
It's not somebody who's seen the light
it's a cold and it's a broken Hallelujah

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