Tod

Wohin der Tod nun genau hingehört, nämlich zum Leben oder schon wo anders hin, weiß ich nicht, da ich ja nicht wirklich sagen kann, was danach kommt. Ich kenne natürlich sehr viele Ansichten darüber, aber keine, die sich wirklich erhärten ließe. Mit etwas Phantasie könnte ich mir selber noch eine neue ausdenken, die genauso plausibel und genau so bloß behauptet wäre.

Das soll nicht heißen, dass es nicht ziemlich wichtig, um nicht zu sagen entscheidend wäre, das zu wissen. Es könnte unser aller Leben verändern, wüßten wir was genaues darüber. Ob wir nun wirklich brav sein sollten, weil das unsere einzige Chance ist, oder ob wir danach wirklich ins Nichts fallen. Ob ich die Fehler dieses Lebens in einem anderen wieder ausbügeln kann, oder ob es denen da drüben komplett egal ist, weil wir sowieso immer tun, was die wollen - auch dann, wenn wir glauben, selber zu entscheiden.

Mein Leben würde sich jedenfalls verändern. Da dem aber nicht so ist, und da nach so langer Zeit des Forschens, Überlegens, Annehmens und Verwerfens noch nichts rausgekommen ist, da darüberhinaus wahrscheinlich auch in den nächsten paar hundert Jahren nichts rauskommen wird, müßte ich mit dem Vorhandenen vorlieb nehmen. Doch das ist angesichts dessen, was wir sonst so über jeden kleinen Dreck wissen, angefangen vom Liebesleben der Fruchtfliegen bis hin zur Größe des kleinsten Schwarzen Loches im Sonnensystem, bemerkenswert wenig.

Ab da gingen die Behauptungen los, wollte ich noch mehr dazu sagen. Ich will nichts bloß behaupten. Ich will aber auch noch weiterschreiben. Schließlich muß ich auch noch ein wenig weiterleben, obschon ich nichts weiß. Vielleicht ist die Frage nach dem Tod auch die, weshalb wir uns so viel Mühe geben, ohne so recht zu wissen, weshalb oder wozu. Welche Strategien bleiben uns, die wir in dieser Frage weniger sehen, als die Höhlenbewohner im berühmten platonischen Gleichnis.

So gehört der Tod erkenntnistheoretisch zwangsläufig auf die Lebensseite. Er ist die Große Mauer, an der man sich die Finger blutig kratzen kann, wenn man justament durch will. Es ist, als würden alle Straßen auf diese Mauer zu laufen, um genau dort halt zu machen. Ich kann fahren wohin ich will, ich lande doch am Ende dort.

Die meisten Menschen neigen dazu, diesen Punkt zu ignorieren, weil man ja doch nichts wissen kann. Wäre dem so, diese Haltung gälte als durchaus effizient: man beschäftigt sich nicht damit, um sich nicht am ergebnislosen aufzureiben.

Meiner Beobachtung nach hat diese (Nicht-)vorgangsweise einen Schönheitsfehler: sie stimmt nicht. Bei genauerem Hinschauen sind die Menschen mit sehr vielen Vorkehrungen beschäftigt, um nicht zu früh an diese Mauer zu stoßen. Riesige Industrien, Staatsysteme, milliardenteure Erfindungen, Berufsstände mit etlichen Millionen Menschen - etwa im Gesundheitssektor - beschäftigen sich ausschließlich damit, diesen Punkt hinauszuschieben. Es geht also ausgesprochen viel Energie, Zeit und Ressourcen in diese Art von "Nichtbeschäftigung".

Was die Menschen bewußt verweigern, hat unbewußt ein mächtiges Gewicht und drängt sich in fast alle großen und kleinen alltäglichen Beschäftigungen. Dann und wann tritt es mit aller Gewalt herein und veranlasst die Menschen zu allerlei Dummheiten. Als solche erscheinen die Handlungen zumindest, wenn man sie bei ihrer Beteuerung, sie hätten einen ohnehin beruhigenden Standpunkt zum Tod, ernst nimmt.

Ihr Standpunkt ist alles andere als beruhigend. Er ist von tiefer Unsicherheit getragen. Und die tritt immer wieder als Panik und unbestimmte Ängste ins Bewußtsein. Der Bürger hat sein ganzes Leben danach ausgerichtet, sich abzusichern. Gegen den Hunger, die Kälte, die Armut. Seine ganze Moral basiert letztendlich darauf, den drohenden Tod und seinen Vorboten, das Leiden, abzuwenden. Wenn er nicht aus der Fülle des Lebens zu schöpfen vermag, dann weil er in dieser Fülle das drohende Ende fühlt.

Die Angst vor dem Tod ist nicht das einzige Gefühl, das uns bewegt. Ich möchte hier keine "mortistische" Lehre aufstellen. Es gibt noch einige andere zentrale Empfindungen: Wut, Hass, Eifersucht. Und die Liebe. Die Todesangst ist eines dieser großen Gefühle.

Die Christen sehen im Tod die Auferstehung und die Erlösung. Die Muslime kommen in irgendeine Art Paradies. Die Atheisten fallen ins Nichts, was ihnen genau so egal sein kann, denn im Nichts werden sie auch keine Angst und keinen Schmerz mehr empfinden. In diesem Sinne müßte also niemand den Tod fürchten. Wenn alle Religionen daneben auch Varianten der verschiedensten Höllen entwickelt haben, so wohl, weil ihnen die Gläubigen sonst abspenstig werden könnten. Bei allen Erfindungen dieser Art wird die Absicht der Erfinder deutlich. Deswegen hat die moderne Gesellschaft sie richtigerweise entlarvt.

Aber was hat sie dagegen zu stellen: Das Nichts. Was das ist, weiß keiner. Aber alle Atheisten wollen wissen, dass es das ist. Das Nichts ist eine Nicht-Antwort. Bei näherem Hinsehen meine ich, auch hier die Absicht der Erfinder zu erkennen. Ich denke, es ist die Falsifikationsmethode, welche erfolgreich gegen die Religionen angewandt wurde. Diese hatten alle positive Aussagen, welche dadurch auch recht gut zu widerlegen waren. Die Moderne macht keine Aussage mehr. Was immer ausgesagt werden könnte, müßte meßbar sein. Und mit was für einem Meßgerät will man auf die andere Seite der unüberwindlichen Mauer gehen? Also kann die Antwort der Meßlattenanleger nur lauten, dass dort, wo kein Meter hinreicht, auch nichts mehr sein kann.
Also das Nichts.
Bliebe noch das Experiment, welches sich alle Mühe macht, die Subjektivität des Betrachters auszuschließen. Damit wurden in den vergangenen hundert Jahre viele ideologische Auseinandersetzungen geschlichtet. Also eine faszinierendes Modell. Legt man es an den Tod an und schließt das Subjekt aus, so hat man jenem von vornherein das Mitspracherecht versagt, das danach zu überleben hofft. Daß man es dann nicht mehr findet, ist nicht mal mehr witzig.

Eigentlich spreche ich hier Banalitäten aus. Einesteils wollte ich sie alle mal zusammenschreiben. Zum Anderen merke ich in Diskussionen, daß nur wenige neben mir diese Banalitäten anerkennen. Hinter dem Atheismus wie auch hinter dem Agnostizismus verbirgt sich mittlerweile eine Gläubigkeit, welche es allenfalls auch mit den klassischen Religionen aufnehmen kann. Ich stelle da und dort auch schon sektierische Züge fest. Beispielsweise missionarischen Eifer im Nichtglauben und im Verbreiten desselben. Natürlich hat das was mit dem Fanatismus der Religionen zu tun, etwa jenem des Islam, der zu viele Leute in die Ecke gedrängt hat mit seinen arabischen Originalzitaten, welche kein Mensch mehr - nicht mal die Zitierer selber - verstehen. In all dieser Ungewißheit, welche der Mensch vor dem Tod empfindet, ist selbst das zigfach wiederholte unverständliche Zitat irgendwann eine Beruhigung - sei's nun ein Rosenkranz, eine Sure oder eine mathematische Formel.

Der Tod wird so ins Leben gebracht. Er durchzieht es und bestimmt es. Bei vielen Entscheidungen richten wir uns unbewußt nach diesem scheinbar abwesenden. Auch hier gibt es das, was es auch bei anderen großen gesellschaftlichen Bewegungen gibt, nämlich Einzelindividuen, die sich quasi stellvertretend für alle ausschließlich mit dieser Frage beschäftigen. Und wenn diese Beschäftigung nicht anerkannt wird, macht sie sich selbständig und beginnt, diese Individuen unbewußt zu beherrschen. So gibt es Menschen, die glauben, tot sein zu wollen, in Wahrheit aber eine Antwort suchen, die eigentlich alle suchen. Etwa Menschen, die todessehnsüchtig sind, und keiner weiß so recht, warum. Das Messingherz meint, hier die Antwort gefunden zu haben - ein Anspruch, bei dem ihm selber schwindlig wird.

Innerhalb des Lebens wird der Tod zum Mythos. Das war er ja auch schon in jenen Zeiten, in denen er zum sensenschwingenden Knochengerippe wurde. Heute ist der Tod eher ein Prolet, weil nur dumme und rücksichtslose Menschen sterben.
Ein anderes Bild ist die Schwingungskurve auf einem Bildschirm, die plötzlich zur Linie wird, ein Salat von Schläuchen und Nirostagestellen, eine dünne Bettdecke und ein zusammengeschrumpftes Menschlein mit abgewandtem Gesicht. Oder einfach ein Filmriß.
Aber all das ist der Tod wahrscheinlich gar nicht. Das Messingherz hat den falschen Vorstellungen keine richtige entgegenzustellen. Es brächte auch nichts, sich zum xten Male eine neue einfallen zu lassen. Es gibt wohl schon genug davon.

Es geht darum, in diesem Nichtwissen zu existieren. Es geht darum, ohne Antwort zu leben, aber dem Tod dennoch den ihm gebührenden Platz einzuräumen. Wenn wir die Sterbenden nicht mehr verräumen würden, wäre bestimmt schon viel geholfen. Zumindest hätte man den Mythen vom schrecklichen oder erlösenden Tod einige konkrete Bilder entgegenzustellen. Man sähe allerdings Sterbende so wie man Kranke sieht. Könnte man vom Leiden auf den Tod schließen? Was man sieht, ist der Mensch, solange er noch vor der Mauer ist. Über das Dahinter sagen diese Bilder nichts aus.

Die in letzter Zeit vielleicht treffendesten Aussagen machte die Reinkarnationstherapie, welche Menschen mit allerlei Hilfmittel wie etwa der Hypnose "rückführte", also in eine Seinsform vor ihrem jetzigen Leben versetzte. Was die Leute erzählten, waren Leben, welche offensichtlich tatsächlich existiert haben. Laut enstprechender Literatur ließen sich sogar etliche historisch auffinden. Bewiesen war damit noch nicht so viel, aber immerhin hat es mal jemand versucht. Und es gab einen ganz neuen Zugang: man mußte nichts glauben, man konnte es ganz einfach mal ausprobieren und es selbst betrachten. Das Messingherz hat natürlich sofort Feuer gefangen und es versucht. Ober besser: versuchen wollen. Es blieb dabei, denn er hat sich nach mehreren Sitzungen als nicht hypnotisierbar erwiesen. Die anderen Methoden - z. B. geführte Phantasien - hat er dann auch probiert. Aber er konnte sich nicht vormachen, dass das nun aus den Tiefen der Seele kam - er war sich stets bewußt, dass er aus seiner reichhaltigen Phantasie schöpfte und die Geschichten erfand.

Somit bleibt auch dieser Weg verschlossen, wenn es denn überhaupt einer war und nicht alles zusammen tatsächlich jener Humbug, den zu sein Kritiker der Reinkarnationslehre immer schon gemutmaßt hatten, nämlich dass man zuerst daran glauben mußte, um seine eigenen Phantasien als Erinnerungen zu verfälschen, ohne es selbst zu bemerken. Natürlich sind mir Menschen über den Weg gelaufen, welche offenbar nicht so immun gegen Hypnose oder ähnliche Methoden sind, und mir Geschichten über die anderen Leben erzählten. Seltsam war, dass diese Menschen so normal waren, so völlig unverändert, dass sie immer noch Lebensversicherungen abschlossen und Geld sparten, dass sie zur Vorsorgeuntersuchung gingen und ihre Unsicherheit gegenüber dem Tod gar nicht verloren hatten. Ich hätte geglaubt, dass, sei man einmal - wenn schon nicht durch Erkenntnis, dann wenigstens durch eigenes Erleben - vom Weiterleben in einer anderen, unmateriellen Welt überzeugt, dass man dann den irdischen Dingen gelassen gegenüber stünde.

Offenbar nicht. Oder eben nur Humbug.

Die Mauer hat also nichts von ihrer Höhe, ihrer Festigkeit und ihrer Rätselhaftigkeit verloren. Noch immer stehe ich davor und kann mich nicht vor ihr abwenden. Und immer noch schwanke ich, ob es darum geht, im Unbeantwortbaren eine Existenz zu finden, oder ob man sich mit diesem Vorsatz was vormacht, und man sich selbst belügt, wenn man meint, nicht mehr nach einer Antwort suchen zu müssen.

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