Von Herrschern und Dienern

" ... Ich glaube ohnehin, dass die Persönlichkeit in der Einsamkeit und im Elend besser gedeiht, wenn es selbstgewählt ist ..."

Diesen Satz schrieb in einem vorigen Eintrag. So leicht hingeworfen war er, wenig durchdacht. Das Durchdenken kam erst später. Wie oft habe ich über die Gedankenlosigkeit geschimpft, die im www herrscht. Und nun tue ich es selber. Damit schulde ich dem www nun eine nähere Ausführung.

Ich schrieb von der Macht, welche ihrem Träger die Möglichkeit einräumt, alles zu tun, wozu er Lust hat. Selbst Unarten kann sich ein Mächtiger erlauben. Manche tun es, manche nicht. Oft muss ein Mächtiger gar nichts tun. Er hat eine viel größere Auswahl. Viele Ohnmächtige, die ihrer Ohnmacht überdrüssig sind, suchen die Nähe zur Macht.
Um dorthin zu kommen, muss man dem Mächtigen was bieten: Wissen, Charisma, Geld, Sex, Ansehen und dergleichen. Mächtige Männer heiraten in der Regel schöne oder reiche Frauen - schöne oder reiche Frauen suchen ihre Zukünftigen sehr selten unter den Fließbandarbeitern. Ein "kostbares Gut" wird zu einem solchen, wenn es selten ist. Dem Mächtigen wird all das zu Füßen gelegt, er sitzt gelangweilt auf seinem Thron und weist mit einer knappen Bewegung seines Zeigfingers auf dieses und jenes. Der, welcher ihm dieses Geschenk darreicht, darf dafür an der Macht teilhaben. Das ist der Deal.

Der Mächtige ist in der beneidenswerten Lage, dass er sich keinen Zwang mehr antun muss. Damit kommt er in eine auf den ersten Blick sehr seltene und sehr begehrte Position: er kann tun, wonach immer ihm ist.
Die meisten von uns haben das schon erlebt. Nämlich im Mutterleib, der ja auch schon bei der Erfindung des Schlaraffenlands Pate gestanden haben soll. Damals waren wir noch mit der Nabelschnur verbunden, und alles was wir brauchten, erhielten wir von dort. Es war warm, weich, finster, wir mußten uns keine Sorgen machen. Es gab keinen Hunger, keine Kälte, keine Angst. Für viele von uns dauerte diese Situation nach der Geburt noch an, wenn eine fürsorgliche Mutter bei jedem Räuspern ihres Neugeborenen sofort reagierte, das Baby hochhob, es warmhielt, es säugte. Man mußte als Kind eigentlich nur schreien, und die Mama kam schon mit der großen Brust, welche alle Seligkeit dieses Lebens versprach. Unschwer läßt sich bereits hier die Parallele zu oben zitiertem Bild vom Mächtigen auf seinem Thron erkennen, der nur mit dem Finger wackelt, um alles zu erhalten, was er will. In so einer Situation kann man seiner Lust und Neigung frei folgen. Wünschen alleine genügt schon.

Anders beim Durchschnittsbürger. Wenn er was will, muss er es sich beschaffen. Je kostbarer der Wunsch, desto mehr Arbeit kostet es ihn. Der Spießer hat hier seine eigene Strategie entwickelt. In jedem Fall läuft es auf eine Selbstdisziplinierung hinaus. Er reißt sich zusammen - um ein Gewerbe zu erlernen, es auszuüben, die Geschäfte am Laufen zu halten. Aus dieser Reihe von notwendigen Eigenschaften hat der Bürger im Laufe der Jahrhunderte ein komplexes Netzwerk von Tugenden entwickelt, welche irgendwann mal Sinn hatten, mittlerweile allerdings zu leeren Formalismen verkommen sind. Daß Müßiggang aller Laster Anfang sei, ist klar, wenn man mitten drin ist, ein Geschäft aufzubauen und dazu nichts geringeres als einer Achtzigstundenwoche bedarf.
Wer aber gerade nichts solches vorhat, für den ist so eine Haltung eine einzige Plackerei.

Und da wären wir dann beim Proletariat. Es soll nach den mühsamen Regeln der Bourgeoisie leben, erhält am Ende aber doch nur einen Lohn - und nichts vom Gewinn. Der Sozialismus hat das dann geändert.
Das befreite Proletariat hat allerdings keineswegs seine Arbeitertradition hochgehalten, sondern im Gegenteil alle Bürgerlichkeit übernommen und - typisch für alle Parvenues - ohne das dazupassende Stilbewußtsein. Das Stehkragenproletariat war entstanden. Wegen anhaltender Erfolglosigkeit - die Mittelschicht hat diese Emporkömmlinge strikt unten gehalten - haben sie dann den Faschischmus erfunden. Sozusagen sich am Bürgertum vorbei einer als Oberschicht vorgestellten Clique an den Hals geworfen. Dafür haben sie tief in den Dreck gegriffen. Und sie würden es jederzeit wieder tun.

Der König sitzt währenddessen auf seinem Thron und betrachtet das Gewusel seiner Untertanen. Mal belustigt, mal gelangweilt, beobachtet er das Gedränge um den Palast. Jeder will zu ihm, wenigstens ein Rockzipfelchen dieser glänzenden Pracht erhalten.
In Wien kann man dieses Gedränge noch jährlich beim Opernball beobachten: der Kaiser ist zwar physisch schon tot, juristisch schon verboten und historisch erledigt - die Wiener drängeln sich aber immer noch um ihren kollektiven Habsburger im Kopf. Statt der schönen Kaiserin Sissy, gibt es eine Paris Hilton oder eine Dita von Teese zu bestaunen. Was aber durchaus entlarvt: die Stripperin bringt wohl den ganzen Auflauf unfreiwillig auf den Punkt. Und ein Mörtel Lugner steckt mittlerweile in jedem von uns. Dagegen kann man nichts mehr machen.

Was hat das alles mit Charakter zu tun? Wir haben den König und seine Diener. Ersterer ist ein Kind im Körper eines Erwachsenen. Was immer ihm als Laune kommt, es wird sofort erfüllt. Selbst wenn es nicht immer so war, in so einer Situation regrediert ein Mensch zurück in seine Kindheit. Man kann das bei Mächtigen sehen, die gestürzt werden. Sie sind so hilflos wie Kinder, sobald sie der Insignien verlustig gehen, und niemand mehr vor ihnen katzbuckelt. Über einen Landeshauptmann, der Jahrzehnte im Amt war, wird berichtet, dass er in seiner Pension lernen mußte, wie man ein Konto eröffnet und eine Bankomatkarte benutzte. Als er sein Amt angetreten hatte, war sowas noch in ferner Zukunft. Der Mann hatte keine Ahnung, in was für einer Zeit er lebte. Die Queen hat nie Geld dabei - noch nie im Leben gehabt; um den schnöden Mammon kümmert sich die reichste Frau der Welt nicht - aber was wäre sie ohne ihn.
Was haben diese Menschen für eine Charakter? Einer der für eine Welt entwickelt wurde, welche weder was mit den Naturgesetzen noch mit ökonomischen Notwendigkeiten zu tun hat. Also ein Traum, der nie zu Ende geht. Und wenn doch, wird das normale Leben als Albtraum erlebt.
Ein Leben im Dauerschlaf sozusagen.

Die Diener haben ihren Charakter gebildet. Und wie! Ein Leben unter Zwängen. Da bleibt vom ursprünglichen wohl kaum was übrig. Ständig unter dem Druck irgendwelcher Regeln. Zuerst der Vater, dann der Lehrer und der Pfarrer. Irgendwann sind die dann alle internalisiert. Dann sitzt der Feind im eignen Kopf und wird als Freund und Retter vor dem Laster gefeiert. Und was an eigenem nicht kleinzukriegen ist, heißt dann "innerer Schweinehund". Ihn zu überwinden führt zu Höchstleistungen. Leistung - das ist das Zauberwort der neoliberalen Bürgerlichen. Nach '68 wurde das eine Zeit lang in Frage gestellt. Aber nach '89 gilt der globale Sachzwang, dem nur mit Leistung und noch mehr derselben beizukommen ist.

Hier habe ich zwei extreme beschrieben. Außerdem habe ich es der Einfachheit halber in eine Zeit gelegt, als solche Anschauungen noch voller Stolz so benannt wurden. Heute scheint all das überwunden. Aber ich meine, es ist alles noch da. Die Worte haben sich geändert. Man redet heute anders darüber. Nüchterner und sachlicher, wissenschaftlich begründet und mit Anglizismen durchsetzt, mit sanften Ausdrücken beschrieben, die über die Gewalt, welche nach wie vor ausgeübt wird, hinwegtäuschen soll.
Man läßt den Leuten Freiräume, in denen sie spielen können, wo sie sich vom Druck etwas erholen können. Man hat den Stand des Psychotherapeuten entwickelt, der den Geschundenen helfen soll, aber doch nur subtil jedes Problem als individuell interpretiert, anstatt einen äußeren Zusammenhang aufzuzeigen. "Du hast dein Leben selbst in der Hand.", soll dem Individuum die Möglichkeit geben, sein Leben selbst und unabhängig dorthin zu bringen, wo die gebratenen Tauben fliegen. Aber hinter diesem Satz steht "Selber schuld". An diesem unausgesprochenen Schattensatz zerbrechen manche. Und nicht die schlechtesten.

Die Diener leben innerhalb der Ordnung. Dort sind sie versorgt. Es gibt Regeln, welche ihnen sagen, wann sie was tun sollen. Und welchen Sinn es hat. Selbst wo sie sich fürchten sollen, wird ihnen gesagt - es gibt überall eine Presse, welche die gelangweilten Massen mit inszenierten Bedrohungen unterhält: Ausländer, Muslime, Terroristen, Faschisten, jugendliche Prügler, pensionierte Abkassierer.
Immer wieder finden sich Krausköpfe, die mal mehr oder weniger auf den Putz hauen und damit die gesamte statistische Gruppe, der sie mehr zufällig als sonstwie angehören, unter Generalverdacht bringen. Spiele für die Massen.
Der Spaß der Bedrohung liegt in der heimlichen Vorstellung, dass sich manche nicht an Regeln halten, diese Regeln gar über den Haufen werfen könnten. Oh, welch befreiender Gedanke! Und welche Bedrohung für den, der nichts anderes kennt, als die kleine Welt der Verbote! Hinter jeder Angst steckt ein heimlicher Wunsch.
Hat nicht nur Sigmund Freud gemeint.

Und nun gibt es jene, die weder Bürger noch Könige sind. Für sie ist die Welt weder ein Schlaraffenland, noch gibt ihnen die Ordnung der Diener Halt. Nur die wenigsten sind aus Überzeugung in dieses Niemandsland gegangen. Die meisten sind irgendwo hängegeblieben, haben das Klassenziel nicht erreicht, nicht genug geleistet oder sich einfach am falschen Ende angestrengt. Sie wurden aus dem Hamsterrad gedrängt, haben irgendwann einfach losgelassen und sind von der globalen Zentrifuge weggeschleudert worden. Danach sind sie in vielen Belangen auf sich alleine gestellt.
Diese Einsamkeit kann viele Gesichter haben. Bei manchen ist es materielle Not, bei anderen ist es eine seltsame seelische Einsamkeit. Sozial vereinzelt sind sie wohl alle. Jeder kennt solche Leute, fast alle haben in ihrem Bekanntenkreis solche Abstürze miterleben können - wenn sie sich nicht vorher ängstlich abwandten. Viele dieser Weggeschleuderten oder Abgesunkenen wehren sich lange dagegen, versuchen den äußeren Schein aufrecht zu erhalten. Manche Arbeitslose gehen jeden Morgen um acht weg, vertreiben sich irgenwo die Zeit, und kommen um fünf wieder nach Hause, damit die Nachbarn nichts von ihrer Beschäftigungslosigkeit bemerken. Manche täuschen sogar ihre Familie. Andere graben sich zu Hause ein und gehen allen Kontakten aus dem Weg, bis sie tatsächlich vergessen werden.
Wenn sie auffallen, dann unangenehm. Drum ist es für sie besser im Verborgenen zu bleiben. Die meisten lassen sich treiben, legen sich eine Maske zu, die sie schnell aufsetzen, wenn ein Diener der Ordnung auftaucht, um den üblichen Verdächtigungen zu entgehen.

Jemand in solcher Lage hat nicht mehr viel. Er ist ganz unten, vegetiert in stillem Elend dahin. Das wirft einen endgültig aus dem Paradies, dem Schlaraffenland. Es gibt keine gebratenen Tauben mehr, kein Manna, das vom Himmel fällt. Wenn man weiterdenkt, hat man am Ende nur noch den Tod vor Augen. Einige verlieren hier den Mut und wollen das unvermeidliche Ende vorziehen. Ja, verständlich. Aber nicht notwendig - der Tod kommt sowieso. An diesem Punkt steht man der Wirklichkeit Aug in Aug gegenüber. Sie ist weder bedrohlich noch vertraut, nicht imposant oder verlockend. Ein Spiegel aus kaltem Glas, der mir jedes Bild zurückwirft, das ich ihm zeige, ohne jegliche Einschränkungen der Moral oder des guten Geschmacks.

Dieses Elend ist kein Leiden, es ist die Abwesenheit jeglichen Empfindens inklusive das des Leidens. So könnte sich das Nichts anfühlen, wenn es existierte. Vielleicht müssen wir gar nicht bis zum Tod warten, um ins große Nichts einzutreten - vielleicht sind wir schon dort. Im Film "Matrix" gibt es einen Verräter, der nicht einsieht, weswegen man in der öden Wirklichkeit leben soll - ich habe ihn besser verstanden, als Neo.

Das war jetzt alles sehr allgemein und etwas simplifiziert. Aber es hatte ja nicht den Zweck, etwas zu beweisen, es ging mir darum, etwas anschaulich zu machen. In der Nacht verschwimmen die Formen der Gegenstände und die Träume steigen hervor. Mit entschlossenem Strich muss man die Konturen nachziehen, damit man den Glauben an die Realität nicht verliert.

Und jede Kontur kämpft gegen ihr Verschwimmen ..

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