Werwolf

Seit vielen Jahren trage ich ein Geheimnis mit mir herum.

Ich bin ein Werwolf. Damit ist es endlich gesagt.

Zum Werwolf wird man durch den Biss eines anderen, der seinerseits durch Werwolfsbiss dazu wurde. Das geht ganze zurück bis zum allerersten, von dem man nichts weiß. Moderne Evolutionsbiologie spräche wohl von spontaner Mutation und seither anhaltend erfolglosen Selektionsversuchen seitens der Umgebung. Bislang haben wir uns immer durchgesetzt. Ist man mal ein Werwolf geworden, kann man nichts mehr dagegen tun. Hat man daneben noch ein soziales Gewissen, wird man dafür sorgen, dass man der letzte in dieser Linie bleibt.

Ihr werdet es nicht glauben: es gibt viel mehr Werwölfe, als gemeinhein angenommen wird. Viel, viel mehr. Dass die Zahl dennoch nicht exponentiell ansteigt, liegt einzig daran, dass die meisten von uns ein diesbezüglich hohes moralisches Bewußtsein haben, und ihre seltsame Neigung für sich behalten. Einzige Ausnahme sind vielleicht Kriege oder ähnliche Katastrophen: fallen alle Barrieren, und hat man sich irgendwann mal an das große Sterben gewöhnt, dann fällt auch jede weitere Selbstkasteiung schwer. Dann gönnt man sich den einen oder anderen kleinen Bissen, weil es in der Masse der Krepierten ohnehin nicht mehr ins Gewicht fällt.
Viele kommen auch gar nicht mehr bis zum Gewissensentscheid, dem inneren bösen Drang nachzugeben oder nicht, da sie ohnehin demnächst erschossen oder zerfetzt werden oder an anderen Seuchen sterben. Schon der bloße, aber zu solchen Zeiten nicht mehr von der Hand zu weisende Gedanke an baldigen Tod, läßt gute Vorsätze dahinschmelzen, wie Vollmilchschokolade in der schwirrenden Gluthitze heißer Augustnächte - sei sie in deinem oder in meinem Mund ...
Ich bitte also um Nachsicht für jene, welche schwach wurden.

Obschon ich mir durchaus bewußt bin, dass der bloße Anblick der Folgen solcher kurzen Schwächen jede Mitleidsregung erstickt. Die Presse weidet sich schließlich an solchen Bildern inklusive Entrüstung im Bilduntertext. Die meisten von uns sind zu stolz, um die Dummköpfe um Mitleid zu bitten. Lieber gehen wir aufrecht in den Tod. Wir müssen schließlich Tag für Tag mit solchen Bildern in unseren Seelen zubringen. Nun gut, unsere Bildunterschriften sind andere ...

Entgegen anderslautenden Meinungen haben wir Werwölfe keinerlei Immunität gegen die üblichen Krankheiten. Manche von uns meinen gar, wir seien anfälliger, insbesondere die Braven, weil so viel Energie gebunden bleibt.
Stimmt auch wieder nicht. Wir sterben ebenso an Krebs, weil wir zuviel rauchen, verunfallen, weil wir zu schnell Autofahren, oder erliegen dem ganz trivialen Unfalltod am Unterboden anderer, welche zu schnell gefahren sind. Folglich müssen auch unsere Kinder Radfahrerhelme und Warnwesten tragen, wenn sie in den Kindergarten gehen. Ja, manche von uns beißen auch ihre Kinder. Zwar tut es den Kleinen genauso weh, wie den Großen, aber wir erklären den Jungs, dass "Indianer keinen Schmerz" empfinden. Den Mädchen erklären wir, dass ihr Papa sie ganz besonders lieb hat. Diese kleinen Dummköpfe glauben einem ja jeden Blödsinn.

Dennoch ist es nicht befriedigend, ein Werwolf zu sein. Es ist sogar egal, ob man dem Drang nachgibt oder nicht. Letzteres schafft nur kurze Entlastung. Man ist einige Stunden zufrieden, dann geht der Durst wieder von vorne los. Ich kann gar nicht so viel trinken, wie ich möchte. Und wenn ich meine Zähne in zartes Fleisch schlüge, wäre es im selben Moment nicht das, was ich in Wirklichkeit suche. Menschen schmecken scheußlich. Aber was will ich als Werwolf sonst mit ihnen machen?

Menschen beißen ist sozusagen das einzige, was diese Erde so hergibt. Da es außer der Erde und den paar Kilometer Orbit - den Rest des Universums lasse ich weg, weil auch wir Werwölfe den nicht betreten können - nichts spannendes gibt, ist Menschen beißen der billige Ersatz für ... für ... ja für was eigentlich?
Keiner von uns weiß es, aber jeder von uns spürt es.

Ich bin also auch so einer. Oder wäre es, wenn ich dem nachgäbe. Aber ich bin einer von den Guten und tue deswegen nicht, was ich eigentlich gerne täte. Wahrscheinlich ist mir deswegen immer so langweilig. Mein Leben besteht daraus, nicht zu tun, was ich gerne täte. Arbeiten, Lieben, Essen und Trinken, alles nur Ablenkungsmanöver, um nicht an das einzige zu denken, was mir wirklich Spaß macht - oder auch wieder nicht mehr ... siehe oben.

Wir Wölfe können keine Interessensgemeinschaft gründen oder eine Selbsthilfegruppe. Wir sind Einzelgänger. Mit anderen zusammenzusein schafft uns keinerlei Befriedigung. Einsamkeit ist uns sozusagen ins Herz gelegt. Sobald der schrechliche Fluch uns heimsucht, verlieren wir jegliches Gefühl für andere, wie für uns selbst. In diesem Moment verschmelzen wir mit unserem schrecklichen Hunger, werden von ihm mitgerissen.
Nur scheinbar sind wir die Jäger - eigentlich jagt der Fluch uns vor sich her. Und wenn wir ihn erfüllen und ein armes Opfer zwischen den Zähnen haben, so zappeln wir in Wirklichkeit schon längst in seinen Fängen. Gerade wenn wir unsere Zähne in das weiche warme Fleisch der Fliehenden schlagen, fühlen wir uns jemandem nahe, jemand den wir für Sekunden für unsere Rettung halten, bis wir erkennen, dass es ein neues Opfer ist und wir nur tiefer in unsere Schuld gerutscht sind, einer Schuld, für die wir nichts können und die am Ende doch an uns hängen bleibt.

An wem auch sonst. Denn nur für mich und meinesgleichen ist der Fluch wie ein Jäger. Für unser Opfer ist er ein Abstraktum. Viel mehr aber ist er ihnen unsere schlechte Ausrede, weil wir uns nicht beherrschen können, weil wir schwach werden in ihren Augen und tun, was kein Mensch tut. Wir sind keine Menschen mehr. Werwölfe sind wir. Vogelfrei und zu jedermanns Verfügung, wenn wir uns nicht mehr wehren können. Jeder kann mit uns tun, was er will, ohne sich irgendwelche Schranken aufzuerlegen. Alle unsere Bosheit ist Rechtfertigung dafür, dass man keinerlei weitere Rechtfertigung mehr braucht.

Und dann, spätestens dann, werden die braven unter den Menschen zu dem, was wir sind. Sie tun uns, was wir den anderen getan haben. Sie zerreißen uns gnadenlos in Stücke.

Und der Fluch reibt sich die Hände - er hat sich weiter gejagte Jäger geholt. Diesmal ganz ohne jemanden zu beißen.


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